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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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geschminkten Gesicht und ihren grauen und schwarzen Business-Anzügen. Wenn sie es darauf angelegt hätte, hätte sie durchaus Aufsehen erregen können. Sie zog es jedoch vor, eine sachliche Kompetenz auszustrahlen, wobei sie zugleich freundlich und hilfsbereit war und es so vermied, dass man sie eventuell für arrogant hielt.
    Sabine und ich kannten uns von der Universität, hatten beruflich jedoch nichts miteinander zu tun. Allein die Voraussetzung für ihren Beruf – das Jusstudium – ließ mich erschaudern. Ich werde nie den Anblick all jener Studenten vergessen, die an der Unibibliothek im Laufe der Jahre über ihren monströsen Gesetzbüchern immer kurz vor dem Einschlafen waren.
    Wenn die Umstände es zuließen – das heißt, wenn wir gerade in keiner Beziehung steckten –, zogen wir von Samstagnacht bis Sonntagmorgen immer wieder mal durch Clubs und Bars, in die sich Sabine zufolge keiner ihrer Kollegen je verirren würde. »Alles Spießer«, meinte sie. Ich wunderte mich, wie sie sich so sicher sein konnte, da sie neu in der Firma – einem Energieunternehmen – war und noch niemanden näher kennengelernt hatte. Was, wenn die eine oder andere es genauso hielt wie sie und sich nach Büroschluss von einer Seite zeigte, die vor Büroschluss keiner für möglich gehalten hätte?
    Ich wollte nichts von Sabine, wollte keine Affäre mit ihr – zumindest nicht, solange ein letztes Stück Verstand in meinem See aus Alkohol trieb, den wir auf unserer Tour wie zu besten (oder schlechtesten) Studentenzeiten mehr vernichteten als tranken. Dennoch konnte ich in solchen Nächten kaum die Augen von ihr lassen. Von Montag bis Freitag hasste sie das nadelstichartige Piepsen ihres Weckers; das Brummen laufender Motoren im Stau; die müden Gags von Radiomoderatoren; das Rattern von Computertastaturen; das Klingeln von Handys; den wabernden Kantinenlärm; die Durchsagen von Sonderangeboten im Supermarkt; die Beschallung durch Popmusik im Fitnessstudio; die Werbeunterbrechungen im Privatfernsehen; das Grölen von Betrunkenen mitten in der Nacht, das von der Straße den Weg in ihr Zimmer fand; hie und da sogar die Geräuschkulisse ihres Traums. Samstagnacht jedoch konnte ich sie dabei beobachten, wie sie sich auf der Tanzfläche förmlich wegwarf; wie der Alkohol sie kaltblütig machte, während ihre Wangen glühten und die Erregung das Gesicht wie ein Schweißfilm bedeckte; wie alles Plärren, Dröhnen, Stampfen, Klirren ihren Mund zu einem hungrigen Lachen öffnete. Die Sabine, die ich kannte, lebte (wie viele andere) im Grunde nur nach achtzehn Uhr und am Wochenende.
    Sabine blickte zu Boden und sah nicht einmal hoch, als ich näher kam. Sie hatte mich angerufen und gebeten, sie abzuholen und ja schnell zu machen, da ihr der Arsch abfror. Sie bemühte sich hörbar um Haltung, um Beiläufigkeit, dennoch war mir sofort klar, dass etwas nicht stimmte, als sie mir sagte, wohin ich kommen sollte. Obwohl sie wusste, dass sie sich auf mich verlassen konnte, hörte sie sich ein wenig so an wie jemand, der es gewohnt war, zu warten, und der sich insgeheim mit der Möglichkeit abgefunden hatte, dass man auf ihn vergaß.
    Sie stand am Rande jenes Bereichs, der vom Neonlicht der Tankstelle erfasst wurde, gut sichtbar für jeden, der an eine der Zapfsäulen fuhr. Aber anders als alles Glas, Kunststoff und Metall der Tankstelle, das in kaltem Glanz erstrahlte, hing alles an ihr herab – die Schultern, das Haar, die Tasche in ihrer Hand –, als würde sie vom Licht zu Boden gedrückt. Gleichzeitig war sie ein regloser Teil der beiläufigen Alltagsverrichtungen, die zu einer Tankstelle gehörten: Tanken; Schrubben der Windschutzscheiben; Saugen des Autoinneren; Abspritzen hartnäckigen Schmutzes, bevor der Wagen in die Waschanlage gefahren wird; der Besuch des Bistros, das übergangslos in den Kassenraum der Tankstelle mündete und in dem ein Plakat »2 Bockwürste mit Semmel für nur 2 Euro« versprach und dazu »Guten Appetit!« wünschte.
    Ein Stück von Sabine entfernt standen zwei Altglascontainer. Das Licht machte vor ihnen halt, sie gehörten zur hereinbrechenden Dunkelheit wie die beiden Telefonsäulen, die so nahe an der Bundesstraße aufgestellt worden waren, dass bei normalem Verkehrsaufkommen ein Gespräch wohl unmöglich war. Über Sabines Kopf wehte stramm eine weiße Fahne, die in blauen Lettern »Hier gibt’s Payback-Punkte!« versprach.
    Ich hatte ein ungutes Gefühl, obwohl ich nicht einmal wusste, ob es einen Grund

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