Das fuenfunddreißigste Jahr
dafür gab. Vielleicht war Sabines Wagen einfach nur liegengeblieben und sie hatte sowohl Bargeld als auch Kreditkarten zuhause vergessen. Da ich jedoch um ihre Gründlichkeit in solchen Dingen wusste (im Gegensatz zu dem Chaos, das sie sonst anziehen oder aber auch verbreiten konnte), war ich mir der relativen Unwahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit bewusst.
Der Abendwind kroch mir unter die Kleidung, sodass ich eine Gänsehaut bekam und die Härchen sich an meinen Armen aufrichteten. Die vorbeifahrenden Autos waren kleine, akustische Nadelstiche. Als ich nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war, hob sie plötzlich den Kopf und blickte mich an. Ich erschrak ein wenig und hoffte, dass sie es nicht bemerkte. Was immer ich auch erwartet hatte – einen kurzen, heftigen Ausbruch der Freude oder des Schmerzes –, es fand nicht statt. Da ich glaubte, dass größtmögliche Gelassenheit in diesem Fall das Beste war, hob ich lässig die Hand und lächelte, als handelte es sich um eine normale Verabredung. »Hallo.« Sabine erwiderte meinen Gruß nicht, lächelte auch nicht, und ich bemerkte, dass sie mich gar nicht richtig anschaute. Vielmehr prallte ihr Blick an der Oberfläche meines Gesichts zurück, wandte sich gegen sie selbst, kerbte sich in ihre Stirn und ließ ihre vollen Lippen zu einem Strich verkümmern.
So stand sie vor mir: nicht anders als ein Laternenpfahl oder eine Zapfsäule. Ich überlegte gerade, was ich tun konnte, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen, als sie sich mir zuwandte, mich umarmte und meine Wangen mit den Lippen berührte.
»Hallo«, sagte ich noch einmal und wollte sie in die Arme nehmen und an mich drücken. Was nicht nur mit der Situation zu tun hatte, sondern mit all dem, was sich über die Jahre zwischen uns angesammelt hatte und immer wieder kurz davor stand, hochzukochen – um sich schließlich wieder zurückzuziehen, ähnlich einem Film, für den unzählige Aufnahmen gemacht wurden, und der dann doch nie gedreht wurde.
»Ist irgendwas mit dem Auto?«
»Nein.«
Ich hätte nicht zu sagen gewusst, ob es ein Glück oder ein Unglück war, dass wir es nie miteinander probiert hatten, und so nie in den möglichen Genuss jenes Lebens gekommen waren, das die außerordentliche Eigenschaft besessen hätte, das unsere zu sein. Wenn mit zunehmendem Alter die Bedeutung jener Chancen, von denen ich mir einbildete, sie gehabt und nicht genutzt zu haben, nicht deutlich zugenommen hätte, hätte sich mir diese Frage wohl gar nicht gestellt. Obwohl ich mir dieser Tatsache bewusst war, konnte ich nicht anders, als Sabines Kopf zu streicheln. Ach, dieses zugleich gespenstische und doch alle Sinne anregende Gefühl einer verschwörerischen Intimität zwischen einem Mann und einer Frau! Ich war mir der Unklarheit meiner Position Sabine gegenüber bewusst, machte jedoch keine Anstalten, sie zu klären, da verschwimmende Grenzen zwischen den Geschlechtern etwas von einem erotisch angehauchten Spiel haben, das den alltäglichen Umgang miteinander knisternd macht, dabei jedoch unverbindlich bleibt. Weder war ich ihr Liebhaber noch ein Kumpel im herkömmlichen Sinne. Manchmal bezeichnete sie mich sogar als ihren »älteren Bruder« – und das, obwohl sie älter war als ich. Wo Freundschaft und Begehren sich so verschwommen überlagern, ist es für gewöhnlich besser, rechtzeitig einen Gang zurückzuschalten und den Kontakt einzuschränken – vor allem dann, wenn man immer wieder mal mit dem Gedanken spielt, die vorherrschende Unentschlossenheit in einem für beide gleichermaßen günstigen Moment auszunutzen und sich da kurzfristig Befriedigung zu verschaffen, wo Glück auf lange Sicht eher unmöglich scheint. In Sabines Fall aber hielt ich mich zurück, erst recht, als sie ihren Kopf gegen meine Handfläche drückte und dabei die Augen schloss. Sie präsentierte sich nackt in dem Sinne, wie Frauen es verstanden: berührbar, verletzlich. Ich genoss die Emotionalität des Augenblicks, freute mich über ihr Vertrauen. Gleichzeitig wünschte ich mir nicht zum ersten Mal, ich wäre ihr nie begegnet. Oder aber – nachdem unsere Bekanntschaft nicht mehr rückgängig zu machen war – sie wäre aus meinem Leben verschwunden wie ein Arbeitskollege, mit dem man kaum ein Wort gewechselt hat und dessen Schreibtisch man eines Tages leergeräumt vorfand. Es überraschte mich selbst, dass ich mich dieses Gefühls nicht schämte, und doch immer zur Stelle war, wenn es ihr schlecht ging, während ich mich immer
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