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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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nur dann meldete, wenn mir nach Feiern zumute war oder nach Betäubung, was sich von Ersterem manchmal nur unwesentlich unterschied.
    »Ich würde auch gerne einmal etwas für dich tun«, hatte sie einmal gesagt.
    »Tust du doch«, erwiderte ich. »Du bist da.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich meine etwas Richtiges.«
    »Was denn?«, fragte ich lachend, da mir ihre Ernsthaftigkeit unangenehm war. »Mir eine Hühnerbrühe vorbeibringen, wenn ich eine Erkältung habe?«
    »Warum nicht?«, sagte sie, sodass ich sie vor mir sah, wie sie mir zuerst das Fieberthermometer in den Mund steckte und später den Löffel in die Hühnerbrühe tauchte, während ich mit Fieber im Bett lag und auch in diesem Moment nicht wusste, was ich davon halten sollte. Ich hatte sie einfach gern, ohne groß darüber nachdenken zu müssen, etwa so, wie man Himbeermarmelade gernhat und Kirschmarmelade hasst: ohne dass man sagen könnte, wie es dazu gekommen war – und ohne dass sich daran etwas geändert hätte, falls doch.
    Wir stiegen in meinen Wagen, den ich am Vortag einem Freund geliehen hatte und der nun nach kaltem Rauch stank. »Was glaubst du«, fragte Sabine, »wie viele Payback-Punkte gibt’s wohl für mich?«
    Wir fuhren eine Weile durch die Gegend. Gleichgültige Sterne. Flüchtige Bodenmarkierungen. Ampelblenden. Verkehrsschilderwald. Auf die Schnelle kaum auszumachende Anzeichen von Erfolg oder Niederlage, Erregung oder Langweile in den abgedunkelten oder lichtfleckigen Gesichtern von Passanten, die vor einem Lokal standen oder über die Straße rannten. All die nächtlichen Betriebsgeräusche und -gesichter erregten meine Aufmerksamkeit gerade genug, dass ich nicht bei Rot über die Kreuzung fuhr oder einen Nachtschwärmer übersah. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, da ich mich für etwas ganz anderes interessierte. Sollte diese Fahrt überhaupt ein Ziel haben, dann befand es sich nicht außerhalb, sondern innerhalb des Autos.
    Zuerst hatte sie gesagt, sie wollte nachhause. Doch als aus der Abfolge von Straßen, die überallhin führen konnten, schließlich jener Weg wurde, auf dem man unweigerlich zu ihrer Wohnung gelangte, hatte sie es sich anders überlegt. Manchmal ist es der Umweg, der zum Ziel führt.
    Seit wir ins Auto eingestiegen waren, hatten wir uns hauptsächlich mit Blicken verständigt. Sprachlosigkeit ist eine Decke, die man über alles werfen kann: Glück, Unglück, Leidenschaft. Aber irgendwann geht das Leben weiter, nimmt wieder seine bis dahin gewohnte Form an, und man muss wieder unter der Decke hervorkommen. »Und?«, warf ich ihr vage vor die Füße, gespannt, ob sie es aufhob und mir zurückwarf. Sie zog lediglich die Augenbrauen und Schultern hoch, eine Geste, die so viel bedeutete wie: Was schon? Das Übliche halt. Ich wusste, dass ich nicht weiter in sie zu dringen brauchte, da sie es mir bald erzählen würde, wahrscheinlich noch in dieser Nacht. Immer wieder blickte ich zu ihr hinüber, eine augenscheinlich gerade gekränkte und in ihrem Stolz verletzte Frau ist immer auch ein Spektakel. Sabine sah aus, als läge sie auf einer Bahre und würde zu einer Operation transportiert, deren Ausgang ihr gleichgültig war.
    Sie hatte mich gebeten, das Radio nicht einzuschalten. Die Stille war voller Zähneknirschen, Haareraufen und unterdrückter Tränen. Ich sehnte mich nach Musik, egal ob Jazz, Klassik oder Hiphop. Hauptsache, es entsprang etwas Lebendigem und rief etwas Lebendiges hervor, und sei es seine Death-Metal-getränkte Absage an das Leben.
    »Wie viele Filme es wohl gibt, in denen ein Mann und eine Frau schweigend durch die Nacht fahren? Was glaubst du?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Viele, nehme ich an.«
    Sie schwieg, und ich fürchtete, sie fiele wieder in ihre Stumpfheit zurück, diese Geringschätzung allem, am meisten aber sich selbst gegenüber, die sie ihre Gaben außerhalb der Bürozeiten manchmal zu Schleuderpreisen unter die Leute bringen ließ. »Ich muss ja froh sein, wenn ich überhaupt noch einen abbekomme«, sagte sie, dazu anderen Unsinn, den man so von sich gibt, wenn man allein ist und sich von Paaren förmlich umstellt sieht.
    »Warum denke ich jetzt, dass das alles wie aus einem Film ist?«
    »Wahrscheinlich, weil es dich tröstet.«
    Sie sah mich verwundert an. »Wieso?«
    »Vielleicht weil da etwas abläuft, was man ohnehin nicht mehr ändern kann. Du kannst dir deine eigenen Gedanken machen, kannst dir einen anderen Schluss ausdenken, aber das hat keinerlei Einfluss

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