Das fuenfunddreißigste Jahr
auf die Handlung des Films. Die ist festgelegt. Der bist du sozusagen ausgeliefert. Umgemünzt auf das Leben hat so ein Gedanke in bestimmten Situationen was Tröstliches. Finde ich.«
»Ausgeliefert«, wiederholte sie, und ich spürte, wie sich Widerstand in ihr regte. »Klingt so, als könne man gegen sein Schicksal nicht an«, sagte sie. »Ich hasse das. Ich will so einen Trost nicht.«
Ich wollte die Gunst des Augenblicks – den Schwung, den Sabines aufflackernde Wut darstellte – nutzen und schlug ihr vor, in ein Lokal zu gehen. Manche Dinge erzählten sich leichter mit einem Glas in der Hand. Außerdem hoffte ich, dass die Wärme im Lokal und die Gespräche der anderen Gäste auf sie übersprangen, sie belebten.
Sie überlegte. Der Bruchteil eines Lächelns (wahrscheinlich hatte sie meinen Hintergedanken sofort durchschaut) huschte an ihrem Gesicht vorüber.
»Später«, sagte sie ohne jeden Nachdruck.
»Was machen wir dann?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
»Einfach weiterfahren.«
»Wohin?«
»Nirgendwohin.«
Wir fuhren durchs Zentrum, vorbei an jenen Denkmälern und Gebäuden, die der Stadt jenes Gesicht gaben, das sich auf Postkarten und in Reiseführern fand. Von Scheinwerfern ausgeleuchtet und zur Bewunderung freigegeben – nicht anders als das Gesicht eines Modells, das für Kosmetikprodukte warb. Um uns herum türmte und drängte sich die in Marmor und Stein gehauene Geschichte, frisch restauriert und mit der unausgesprochenen Empfehlung, sich ihr zum Wohle der Wirtschaft auf eine banale Weise zu bedienen – ob touristisch oder patriotisch.Wie leicht wog diese inszenierte Vergangenheit plötzlich angesichts jener Geschichte, an der Sabine gerade zu tragen hatte! Ich vertraute darauf, dass sich – wie so oft bei ihren Geschichten – neben aller Tragik gerade so viel Komik fand, dass wir miteinander darüber lachen konnten. Bis schließlich nach und nach das Tragische verschwand, das Komische übrig blieb und als Anekdote später auch Menschen erheiterte, die den Zusammenhang nicht kannten. Dieser Prozess ging manchmal unheimlich schnell vonstatten, nicht gerade von heute auf morgen, aber doch innerhalb einer Woche, sodass man das Gefühl bekommen konnte, Sabine spielte ihre Empörung und ihren Schmerz, gefiele sich darin und nähme nichts ernst genug – Männer schon gar nicht –, dass es sie aus der Fassung bringen, geschweige denn ihr den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. »Keiner kann ihre Mauer durchdringen«, hatte einer ihrer »Affärenmänner« einmal in einer Bar über sie gesagt und sein Glas Whisky in einem Zug geleert.
Ein Blick auf Sabine genügte, um zu erkennen, dass es wohl weniger eine Mauer als ein dünner Film war: Sie kratzte sich an der linken Hand. Sie hatte ihre Neurodermitis eigentlich gut im Griff, es war zwei Jahre her, dass ich sie mit einem Verband gesehen hatte, beim Begräbnis ihres Vaters – ein Ereignis, das mir auch deshalb unvergesslich blieb, weil den wenigen Worten, die wir wechselten, zu entnehmen war, dass sie – wenn überhaupt – lieber die Mutter als den Vater tot gesehen hätte. Ihr Vater – ein Architekt ohne eigenes Büro, der gerne lang schlief und Witze riss –, war ein spontaner Mensch gewesen, der unangekündigt bei ihr im Studentenwohnheim vorbeikam (ohne, dass es ihr peinlich war), und der es gerne gesehen hätte, wenn sie irgendetwas studiert hätte, das mit Kunst oder Literatur zu tun hat. Leider – wie sie selbst empfand – geriet sie in dieser Hinsicht nach ihrer Mutter, die Betriebswirtschaftslehre studiert und zuhause die Hosen anhatte. Wenn ich an Sabines schrägen Humor dachte – die Art, in der sie sich ab einem bestimmten Punkt ungehemmt dem Gelächter preisgab und dabei selbst am lautesten lachte –, kamen mir die Witze ihres Vaters über verheiratete Frauen, Hunde und Beamte in den Sinn, die wohl ein – wenn auch bescheidener – Schutzschild waren gegen die Humorlosigkeit des Lebens.
»Hör auf, dich zu kratzen«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie es nicht mochte, darauf aufmerksam gemacht zu werden. Früher konnte es passieren, dass sie wie ein Kind trotzig weiterkratzte, als ginge es niemanden etwas an, ob sie sich schadete oder nicht, und als wäre sie erst dann glücklich, wenn Blut floss. Inzwischen hörte sie kommentarlos damit auf und versuchte, sich zu beherrschen.
Ich öffnete ein wenig das Fenster. Trotz der Worte, die inzwischen gewechselt wurden, und der Geräusche, die ich
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