Das fuenfunddreißigste Jahr
der Zitrone sanft wackeln, ihre Locken sich leicht hin und her bewegen, ihr Gesicht auf die Frucht und das Messer gerichtet ist. Ich komme mir beinah vor wie bei einer Verabredung mit jemandem, der nicht meine Halbschwester ist, sondern eine Frau, die ich kennengelernt habe und bei der es nun darum geht, herauszufinden, wie sehr wir einander gefallen und ob wir überhaupt ein näheres Interesse aneinander haben. Um dem ein Ende zu bereiten, müsste ich meine Schwester in ein Gespräch über Familienangelegenheiten verwickeln, mehr von mir erzählen, um so allmählich wirklich zu dem Halbbruder zu werden, der ich bis jetzt nur dem Namen nach bin. Während ich mir so ein Gespräch vorstelle und nach einer möglichen Einleitung dazu suche, stelle ich jedoch fest, dass mir im Grunde nichts daran liegt, ja dass es mir davor graut. Isa hat recht, wenn sie keine der Horrorgeschichten über unseren Vater hören will. Auch ich will nichts mehr wissen von der Ungerechtigkeit, die es bedeutet, in eine intakte oder aber eine zerstörte Familie hineingeboren zu werden, von den Eltern angenommen oder aber abgelehnt zu werden. Ich habe das durchgemacht wie ein Mensch, der Gott sucht und dem so lange immer wieder dieselben Mantras oder Suren eingebleut werden, bis er sich ihnen schließlich ergibt oder aber sich davon freimacht, die Suche an sich aufgibt.
Da es aber nun mal zum Menschen gehört, solange man nicht betrunken ist, über irgendetwas zu sprechen, das einen Sinn ergibt, frage ich Isa, wie sie denn herausgefunden hat, dass mein Vater auch der ihre ist.
Sie nippt an ihrem Averna und blickt an mir vorbei auf ihr Bücherregal, in dem sich nicht nur Kochbücher, Kinderbücher und Romane befinden, sondern auch Fotos von einer Katze in bunten Bilderrahmen, Steine, die sie auf ihren Reisen gesammelt und mitgebracht hat, ein Gefäß für Duftöl, ein Nussknacker sowie Spielzeug aus Plastik von der Art, wie es sich in Kinderüberraschungseiern findet.
»Meine Mutter hat mir von ihm erzählt. Als ich volljährig war, hat meine Mama« – sie nennt ihre Adoptivmutter Mama, ihre leibliche Mutter Mutter – »mir gesagt, wie meine Mutter heißt. Es gab da gar keine Bedenken von ihrer Seite, sie wusste, dass mir nichts fehlt, dass nichts zwischen uns kommen kann. Sie war der Meinung, man muss jedem Menschen die Möglichkeit geben, zu erfahren, wo er herkommt.«
Der Averna ist schnell ausgetrunken, und die Prozedur der Getränkezubereitung – der Eiswürfel und die Zitrone – beginnt von vorne.
»Ich habe meine Mutter ein paar Jahre später gesucht. Ich weiß gar nicht, warum, vielleicht einfach deshalb, weil meine Neugier so groß ist. Wolltest du deinen Vater wirklich nie wiedersehen? Schon aus Neugier?«, fragt sie, während die Eiswürfel in die Gläser fallen.
Nein, lautet meine knappe Antwort, von der ich für den Augenblick hoffe, dass sie in ihrer gewollten Strenge über alle möglichen Fragen Auskunft gibt, die Isa dazu einfallen könnten. Aber Isa macht keine Anstalten, nachzufragen.
»Stell dir vor«, sagt sie und stellt dabei die Gläser auf den Tisch, »sie hat mir den Namen meines Vaters nicht gesagt. Meine Mama wusste ihn auch nicht, da meine Mutter ihn bei der Geburt nicht angegeben hat. Kindsvater unbekannt, nennt man so was.« Sie zuckt mit den Schultern. »Meine Mutter ist im Herbst gestorben. Erst da hat sie ihr Geheimnis gelüftet und mir in einem Brief seinen Namen verraten. Und dann habe ich nachzuforschen begonnen.«
Isa hält inne, sieht mich an, ruhig, abwartend. Etwas Lauerndes liegt in ihrem Blick, das ich erst dann richtig zu deuten verstehe, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag trifft: Isa kann meinem Vater begegnet sein, vor kurzem erst. Sie kann dadurch nicht nur ihrer, sondern auch meiner Vergangenheit ein Gesicht geben. Wie sein Leben verlief, nachdem er uns verlassen hat. Was aus ihm geworden ist. Unter welchen Umständen – sofern er nicht tot ist – er heute sein Leben fristet. Dieses Wissen, so begreife ich, kann nicht nur meine Vergangenheit, es kann vor allem meine Gegenwart verändern. Dazu müsste ich ihm nicht einmal gegenübertreten, es genügte, dass ich weiß, dass er, der für mich längst gestorben ist, an einem nicht allzu weit entfernten Ort morgens aufwacht, atmet, isst, trinkt, fernsieht, vielleicht sogar noch fickt, abends schlafen geht. Dieses Wissen würde sich in mein Leben hineinfressen mit der langsamen, aber unerbittlichen Konsequenz eines Wurms oder Käfers.
Das
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