Das fuenfunddreißigste Jahr
ist es, was Isa mir in diesem Moment unausgesprochen anbietet: ein Leben mit ihm oder ohne ihn. Ich rechne es ihr hoch an, dass sie mir die Entscheidung überlässt, und nicht einfach draufloserzählt. Von sich. Von ihrer Mutter. Von ihm.
Sie sieht mich immer noch an, ich schaue ihr in die Augen, die Tatsache, dass sie die Antwort meines Blicks sofort versteht, ist neben der Farbe unserer Augen das Zweite, das uns an diesem Tag verbindet.
»Du willst nichts von ihm wissen, nicht wahr?«
»Nein. Für mich ist er tot und soll es auch bleiben.«
»Und wenn er wirklich tot ist?«
»Will ich es auch nicht wissen. Er ist für mich tot, auf meine Weise, das genügt.«
»Wahnsinn.«
»Vielleicht.«
Isa lacht. Sie nimmt ihr Glas, wir stoßen an.
»Ich muss ab jetzt sehr aufpassen, dass ich mich nicht verplappere. Das wird richtig schwer. Das liegt mir gar nicht. Du weißt, wann immer du deine Meinung darüber änderst, brauchst du es mir nur zu sagen.«
»Okay.«
»Und worüber sprechen wir jetzt?«
»Da wird uns schon was einfallen«, sage ich und stoße mit ihr an.
Zwei Stunden später herrscht für einige Momente ein Schweigen zwischen uns, als könne man es mit den Händen packen wie ein Möbelstück, das man kurz zuvor gekauft hat und nun dahin stellt, wo es hingehört. Ich bin schuld, dass es so weit gekommen ist. Schließlich habe ich sie dazu gebracht, dass sie sich ans Klavier setzt und mir etwas vorspielt. Sie wollte ursprünglich nicht, ich habe jedoch so lange keine Ruhe gegeben, bis sie endlich auf ihrem Drehstuhl Platz nahm. Der Zufall wollte es, dass sich unter den Stücken, die sie in letzter Zeit ihrem Repertoire hinzugefügt hatte, auch ein Klavierkonzert von Rachmaninov befand, das ich sehr mag und von dem ich außerdem eine CD besitze, was ich Isa jedoch verschwieg, damit sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlt, dem Vergleich mit Martha Argerich standzuhalten.
Isa wollte ursprünglich Konzertpianistin werden, hatte jedoch bald eingesehen, dass nicht so sehr ihr Mangel an Talent als ihr Mangel an Disziplin sowie die fehlende Bereitschaft, ihr ganzes Leben den strengen Exerzitien des berufsmäßigen Klavierspielens unterzuordnen, es sinnvoll erscheinen ließen, aufs Lehramt umzusteigen. Sie unterrichtet an zwei Musikschulen und gibt privat Klavierunterricht, verfolgt daneben jedoch weiterhin künstlerische Projekte. Im Augenblick erarbeitet sie mit einer Sopranistin einen Abend mit Liedern von Schumann. Sie hatte mir per E-Mail bereits eine Probe ihres Könnens geschickt, ein Stück von Debussy, das sie im Studio aufgenommen hat. Es hat mich jedoch nicht sonderlich bewegt, sie über die Lautsprecher meines PCs spielen zu hören. Was sicher nicht nur daran lag, dass ich ihr gegenüber anfangs eine gewisse Distanz wahrte, sondern auch daran, dass ich Debussy noch nie etwas abgewinnen konnte – »La Mer« ist ein Stück, bei dem ich während eines Konzertes einmal mit dem Einschlafen zu kämpfen hatte.
Als Isa nun jedoch ihr Spiel beendet hatte, war ich in einer Weise ergriffen, dass ich mir vorkam wie nackt auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Ich hatte sie während des Spielens von der Seite beobachtet: wie sie den Rücken krümmte; den Kopf hob und senkte und dabei den Tasten mit ihrem Gesicht einmal so nahe kam, dass man eine Berührung in der Hitze des Gefechts nicht für ausgeschlossen hielt; wie sie den Atem anhielt und alle Energie, die auf Tasten und Pedale überging, für einige atemlose Augenblicke in ihrem Brustkorb sammelte. Es gibt Klavierspieler, die – auch wenn es natürlich nicht der Wahrheit entspricht – ganz aus den Armen und Handgelenken heraus zu spielen scheinen. Bei Isa kam der Einsatz des ganzen Körpers zum Vorschein. Meine Ergriffenheit rührte jedoch nicht nur von den Klängen, die der Anschlag ihrer Finger auf den Tasten hervorrief; auch nicht vom Schauspiel ihres Körpereinsatzes, der das Ganze irgendwo zwischen Sport und Meditation ansiedelte; was mich erschütterte und nun sprachlos macht, ist die Tatsache, dass der Mensch, der dafür verantwortlich ist, meine Schwester ist – ob halb oder ganz, tut nichts zur Sache. Früher habe ich gedacht, wie es wohl wäre, eine Familie zu haben, und nicht nur eine Mutter. Aber obwohl ich mich danach sehnte, und obwohl ich oft Freunde besuchte und sah, wie es war – richtig vorstellen konnte ich es mir nie. Der Zaun, den meine Mutter um unser Leben errichtet hatte, war – wenn auch in mancher Hinsicht schleißig
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