Das Gebot der Rache
glauben.«
»Ich nehme an, in dieser wundervollen Landschaft hätten Sie auch nicht viel mehr benötigt, stimmt’s? Ich würde für mein Leben gerne mal dorthin reisen.« Sie fummelte an ihrer Brosche herum.
»Ja sicher, Irene. Wir haben den lieben langen Tag in der herrlichen Landschaft gespielt. Mehr haben wir zu unserem Glück nicht gebraucht.«
Ich musste lachen. Einmal mehr war ich erstaunt darüber, was für Klischees die Vorstellung der Leute von Schottland prägten. In den Augen der Menschen hier war meine Heimat ein endloses, traumhaft schön fotografiertes Tourismusplakat – das idyllische Kyle of Lochalsh, das sich entlang irgendwelcher Hebridenstrände bis in die Berge von Glencoe zieht. Ich dachte an Ardgirvan, die Sozialbauwohnungen mit ihrem braunen Kratzputz: erst nach dem Krieg errichtet und Ende der Sechziger, als ich geboren wurde, bereits baufällig. Ich dachte an die leer stehenden Gebäude der Zementfabrik an der Umgehungsstraße, die 24-Stunden-Autowerkstatt, die Sägemühle und die räudigen Pubs auf der Highstreet. An die Millionen Tonnen von Beton rund um den Ort: die Kreisverkehre, Ring- und Umgehungsstraßen, die einzig und allein dazu dienten, diese triste Stadt möglichst schnell und bequem umfahren zu können. Richtung Norden. Richtung Glasgow. Dahin, wo es besser war.
»Machen Sie sich etwa über mich lustig, Donnie?« Sie lächelte und tat so, als wäre sie gekränkt.
»Nein, entschuldigen Sie. Aber weite Teile von Schottland entsprechen nicht ganz dem Bild, das die Leute sich davon machen.«
Der Gong ertönte und kündigte den baldigen Beginn des Spiels an. Die beiden Mannschaften segelten über das Eis aufeinander zu. Walt glitt rückwärts und nahm seine Position in der Verteidigung ein. »Dann mal los, macht sie fertig, Eagles!«, rief Sammy und klatschte in die Hände, als sie sich neben mich setzte. »Oh, hallo, Irene! Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Hallo, Sammy.«
»Hör mal, Stephanie möchte sich unseren Samowar ausleihen«, sagte Sammy und wandte ihre Aufmerksamkeit jetzt mir zu. »Ich habe ihr gesagt, dass du ihn morgen im Laufe des Tages vorbeibringst.«
Ich blickte zu Stephanie Kruger, die mich aus der hinteren Reihe anlächelte.
»Stell ihn einfach auf die Veranda, wenn wir nicht zu Hause sind, Donnie«, sagte sie. »Vielen Dank auch.«
»Er ist irgendwo in der Garage«, sagte Sammy.
»Aber morgen muss ich …«
Sie sah mich eindringlich an.
»Also gut, kein Problem.«
Ich hatte immer noch den Autoschlüssel in der Hand und drückte die Spitze in meine Handfläche, als der Schiedsrichter in seine Trillerpfeife blies. Mit dem Klappern der Schläger und dem Kratzen der Kufen erwachte unter uns das Spiel zum Leben.
10
Als Walt an jenem Abend im Bett war, machten wir ein einfaches Abendessen aus Pasta und Salat. Ich ließ die Pasta abtropfen und rührte das Pesto ein, während Sammy Kirschtomaten halbierte und sie in eine Schüssel mit Rucola und Brunnenkresse füllte. Bei ihr schien alles Stunden zu dauern. Wie so viele Frauen räumte sie beim Kochen auf, spülte jeden Löffel, jede Schüssel und packte alles sofort in die Spülmaschine, wischte jeden Zentimeter Arbeitsplatte und jedes Schneidebrett, verstaute sämtliche nicht genutzten Zutaten wieder ordent lich in den Schränken. Ich war schneller, aber in meinem Kielwasser hinterließ ich ein rauchendes Waterloo, ein mittelalterliches Schlachtfeld voller Gemüseschalen und blutbeschmierter Messer. Wenn Sammy mit dem Kochen fertig war, ließ sich nur noch aufgrund der Gerüche erahnen, dass sie überhaupt hier hantiert hatte.
Wir aßen schweigend. Sammy blätterte in einem Magazin, ich verfolgte mit einem Auge die Nachrichten auf dem kleinen Fernseher. Kaum dass sie ihren letzten Rest Salat gekaut und sich den letzten Tropfen Olivenöl von der Lippe getupft hatte, blickte sie auf und sagte: »Also, was sollte das Theater heute?«
»Bitte?«, fragte ich völlig verdutzt und legte die Gabel beiseite.
»Walt so zur Schnecke zu machen.«
»Ich habe ihn nicht zur Schnecke gemacht .«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Er war völlig durch den Wind. Und das auch noch direkt vor seinem Spiel. Wirklich nett.«
Das war typisch Sammy. Sie wartete ab, unterdrückte ihren Ärger, bereitete sich vor – und schlug immer dann zu, wenn man längst nicht mehr damit rechnete.
»Och, ich bitte dich. Er muss einfach lernen, den Dingen mehr Respekt entgegenzubringen. Er soll doch bloß
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