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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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paar Zentimeter von seiner bandagierten rechten Hand entfernt. Oben konnte ich ihre Schritte auf den Holzdielen hören. Ich ruckelte mit meinem Stuhl von einer Seite auf die andere und schaffte es, ein kleines Stück näher an Walt heranzurücken – immer das Babyfon im Auge. »Ummm!« Endlich hatte er verstanden. Sein Blick wanderte von mir zu dem Skalpell. Er streckte die Hand aus, woraufhin ihn offenbar ein heftiger Schmerz durchfuhr, denn hinter seinem Knebel schrie er auf. Der Blutfleck auf dem Verband schien größer zu werden. Er weinte und schüttelte den Kopf. Ich sah ihm in die Augen, versuchte ihm, nur mit Blicken zuzureden: Bitte, Walt, ich weiß, dass es wehtut, aber wenn wir hier nicht rauskommen, werden wir sterben.
    Er wagte einen neuen Anlauf, seine Schultern bebten unter Tränen. Blut aus seiner Wunde schmierte über die Stuhllehne, als seine zitternden Fingerspitzen sich an die silberne Klinge herantasteten. Von oben konnte ich gedämpfte Stimmen hören, als sie an der Haustür mit jemandem sprach.
    Walt erreichte das Skalpell. Er zog es heran, ergriff es mit seiner blutenden Hand und hielt es schließlich in seiner zitternden Faust. Ich stemmte mich gegen den Boden, schob, zog und kippelte den quietschenden, knarrenden Stuhl hin und her, immer näher an Walt heran, bis mein gefesseltes linkes Handgelenk nur noch wenige Zentimeter von der Klinge entfernt war. Schweiß lief mir über das blutige Gesicht, eine nach Salz und Rost schmeckende Lake rann mir in den Mund und brannte mir in den Augen. Blinzelnd behielt ich das Babyfon im Auge. Wie weit war sie wohl von dem Lautsprecher entfernt? Nur noch ein oder zwei Zentimeter weiter …
    Obwohl ich meinte, in meiner Wade das Reißen von Muskelfasern zu spüren, gelang es mir schließlich, die letzten paar Zentimeter zu überwinden. Dabei kratzten die Stuhlbeine laut über den Betonboden. Meine Fesseln berührten jetzt das Skalpell. Walt zog die Klinge über die Kabelbinder. Sie durchschnitt das Plastik wie Butter, und innerhalb von Sekunden war mein Arm frei. Ich nahm Walt das Skalpell aus der Hand und durchtrennte die Plastikriemen, die meine Knöchel und meinen anderen Arm an den Stuhl fesselten, wobei ich mir mehrfach ins eigene Fleisch schnitt.
    Ich hatte bereits Walts Beine befreit und nahm mir gerade seinen linken Arm vor, da hallte ein einziger lauter Knall durch das Haus über uns. Gefolgt von einem dumpfen Schlag, als etwas auf den Boden krachte. Ich zerrte Walt aus dem Stuhl und riss ihm das Klebeband herunter. »Daddy! Meine Hand!« Ich hielt ihm den Mund zu und nickte in Richtung des Babyfons. Mit Walt in den Armen taumelte ich quer durch den Raum zu dem winzigen, in Schulterhöhe gelegenen Kellerfenster. Draußen türmte sich der Schnee bis zur Hälfte der Scheibe, darüber jagten weiße Flocken durch den pechschwarzen Nachthimmel. Ich packte den Fenstergriff und riss mit aller Macht daran, aber es war fest verklemmt. Mit mindestens fünfzehn Schichten Farbe versiegelt und vermutlich seit dreißig Jahren sommerlicher Hitze und winterlicher Nässe ausgesetzt, bewegte sich das Fenster keinen Zentimeter. Erneut hörte ich Schritte irgendwo über uns. Als sie lauter wurden, umklammerte ich das winzige Skalpell mit der Faust und blickte lauernd zur Treppe. Dann entfernten sich die Schritte wieder, und ich hörte ein schleifendes, polterndes Geräusch – irgendetwas Schweres wurde über die hölzernen Bodendielen gezogen.
    Ich wandte mich wieder zum Fenster und rammte das Skalpell in die dicke Farbschicht. Ich zog es von links nach rechts, drückte es mit aller Kraft immer tiefer in den entstehenden Schlitz. Jahrzehntealte, gummiartige Lackfarbe riss und blätterte ab, Walt klammerte sich zitternd und verängstigt an mein Bein. Ich hatte das Skalpell bis über die halbe Länge gezogen und spürte bereits ein wenig Spiel im linken Flügel des Fensters, als ein kurzes Krachen ertönte. Erschrocken starrte ich auf den Stumpf des Skalpellgriffs in meiner Hand – die abgebrochene Klinge steckte tief im Fensterrahmen. »Verdammter Mist!« Ich zerrte mit beiden Händen und versuchte, das Fenster aufzureißen, aber die rechte Seite war immer noch felsenfest mit dem Rahmen verklebt. Ich rammte meine Schulter ein-, zwei-, dreimal dagegen. Verzweifelt blickte ich hinüber zum Babyfon.
    Scheiß drauf.
    Ich trat einen Schritt zurück und warf mich mit Wucht gegen den Rahmen. Glas brach, Holz splitterte. Kalte Luft schlug mir ins Gesicht, als ich das

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