Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
Vom Netzwerk:
Worte verstehen: »O Gill, o mein Gott, Liebes. Was hast du dir nur angetan?«). Und ganz langsam wurde es dir bewusst: Ah ja, verstehe. Ich habe vergessen, dass ich verrückt bin, und bin aus Versehen auf die Straße gegangen. Als wäre Wahnsinn etwas, das hinter verschlossenen Türen absolut akzeptabel ist. Als gäbe es kein Problem, solange man niemanden damit belästigt.
    Sie riefen einen Krankenwagen. An das, was danach geschah, kannst du dich nicht mehr genau erinnern. Möglicherweise wurde darüber geredet, dich einweisen zu lassen, aber dazu kam es nie. Vermutlich, weil bei dir kein Geld zu holen war.
    Und die ganze Zeit, die du auf dem Sofa, dem Teppich oder dem Küchenboden lagst (du gingst kaum noch ins Bett, schliefst immer dort ein, wo du gerade warst, eines der Kinderlieder vor dich hin brabbelnd, die du ihm als Baby vorgesungen hattest: Sag, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein ), maltest du dir aus, wie es passieren würde, wie du es anstellen würdest.
    Eine Schusswaffe wäre vermutlich das Beste. Ein Freund von Stephen besaß ein Gewehr. Einläufig, wie du noch von damals wusstest, als die beiden einmal losgezogen waren, um im Morgengrauen in den Dünen Kaninchen zu jagen. Wo er sie wohl verwahrte? Wie könntest du dir Zugang verschaffen? Der kalte, unpersönliche Stahl im Mund. Würdest du so überhaupt an den Abzug kommen? Würdest du einen Stock brauchen, um ihn zu drücken? Und dann – gar nichts mehr. Nur noch die Milliarden von Gedanken, die in einem pinkfarbenen Nebel aus deinem Hinterkopf sprühen, sich als dicker, roter Film auf Tapeten, Vorhänge, die Decke legen würden. Craig, Stephen – sämtliche Erinnerungen wären von einem Augenblick auf den anderen dahin, ohne dass du überhaupt etwas davon merken würdest.
    Erst das leise Vibrieren, dann das brutale Donnern der eisernen Gleise auf deinen Knien, auf deiner Stirn – Sekundenbruchteile bevor das Heulen und Stampfen des Zuges alles beenden würde. (»Werde ich sie spüren?«, fragtest du dich desinteressiert. Die Räder, wenn sie dir den Kopf abrissen. Dir die Beine abtrennten.)
    Das kalte Rauschen der Luft, wenn du vom Dach des Apartmenthauses sprängest, zwanzig Stockwerke hinab. Alte Damen, die aus ihren Fenstern schauen und deinen dunklen Schatten vorbeifliegen sehen würden. Der Sturz würde geschätzte zwei Sekunden dauern. Würdest du das Bewusstsein verlieren? Du hattest etwas in der Art gehört. Würdest du den Aufprall fühlen, wenn dein Körper auseinanderplatzte wie ein Sack voll Blut?
    Das Kratzen der Rasierklinge über den Handgelenkknochen, grauenhaft und fremdartig, wie das Quietschen von Styropor, das schrille Kreischen von Fingernägeln auf der Tafel. Die Fontäne, mit der dein Blut in das heiße Wasser spritzen würde, erst dickflüssig wie Sirup, dann ein verwehter Schleier. Ein schreckliches, rotes Badeöl – wie eine dieser Aufmerksamkeiten, die Craig dir manchmal aus der Drogerie im Einkaufszentrum mitbrachte. Die Weihnachtsgeschenkpackung. Alles würde warm und unscharf werden, dein Kopf würde unter Wasser gleiten, dein eigenes Blut süß in deinem Mund, sein Geruch in deiner Nase.
    Oder wie Stephen: der Moment, ab dem es kein Zurück mehr gibt, wenn der Stuhl neben dir auf den Boden aufschlüge und deine Füße auf der Suche nach Halt nervös zuckend um sich träten. Das kratzige Seil, das dir in den Hals schnitte. Du würdest fühlen, wie deine Zunge anschwillt und die Mundhöhle ausfüllt. Speichel liefe dir übers Kinn, deine Augen traten vor. Würdest du an der Schlinge zerren, wenn du deine Entscheidung bereust, obwohl es längst zu spät ist? Wärst du immer noch bei Bewusstsein, wenn dein Urin dir warm die Schenkel herabliefe?
    Das salzige Wasser des Clyde, das deine Lungen füllt, wenn du nicht mehr weiterschwimmen kannst. Deine vollgesogenen Kleider zögen dich nach unten. Und du warst ja noch kräftig. Eine gute Schwimmerin. Du hättest es ziemlich weit raus geschafft. Es gab Atom-U-Boote dort draußen, in der Flussmündung vor der Küste von Ayrshire. Man konnte sie von der Küste aus sehen. Würdest du an einem dieser Monster vorbeisinken? Schwerelos und tot an seiner gigantischen schwarzen Metallflanke entlangtrudeln? Sein furchterregender Turm allein so groß wie eines der Apartmenthochhäuser. Seine Schraube, deren gewaltiger Sog dich immer näher zöge, so groß wie ein Einfamilienhaus und ohrenbetäubend laut – der Lärm unter Wasser um ein Vielfaches

Weitere Kostenlose Bücher