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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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uns sah ich sie im Schnee herumrennen. » WILLIAM! «, brüllte sie in die Nacht hinaus. Ich duckte mich in die schützende Dunkelheit und beobachtete, wie sie weiter ums Haus lief. Das Verandadach war gut drei Meter breit – breit genug für wenigstens drei Schritte Anlauf. War das zu schaffen, mit Walt auf dem Rücken? »Walt? Walt? Hör zu, mein Sohn.« Ich presste meine Lippen an sein Ohr. »Wir werden jetzt springen, in Ordnung?« Er wimmerte leise, schlang die Beine noch fester um meine Hüfte und klammerte sich mit beiden Armen um meinen Hals.
    Ich ging zurück bis zur Hauswand und atmete tief durch. Wenn ich nicht weit genug sprang, war das unser Tod. Wenn der Schnee nicht tief genug war, um unseren Fall aufzufangen, und ich mir ein Bein oder die Hüfte brach, bedeutete das ebenfalls unseren Tod. Ich presste das Gesicht an die Scheibe und starrte über den Flur durch das Vorderfenster. Doch ich konnte sie bloß schreien hören, jetzt regelrecht hysterisch. Ich rannte los und schaffte drei kräftige Schritte Anlauf, bevor ich mich von der Dachkante abdrückte, in Richtung der Pinie sprang und mich nach vorne warf, um so weit wie möglich im Schnee zu landen. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte völlige Stille, während wir durch den wirbelnden Schnee fielen, schließlich zu Boden stürzten und einen Meter oder tiefer einsackten – halb erfroren, unter Schock, aber vorerst in Sicherheit.
    Wir waren im Dunkel, außer Reichweite der Verandabeleuchtung gelandet. Von der Veranda aus würde sie unsere Spuren nicht erkennen können. Ich zog Walt an mich heran, duckte mich tief in den Schnee und beobachtete das Haus. Plötzlich flammte das Licht hinter dem Küchenfenster auf. Ich sah, wie sie Schubladen aufriss, Sachen herauszog und wegwarf, offensichtlich auf der Suche nach etwas. Ein Windstoß fegte über uns hinweg, und der Schnee fiel noch dichter. Dicke, feuchte Flocken trudelten vom Himmel, schmolzen in unserem Haar, betäubten meine Kopfhaut. Walt zitterte unter der Jacke, und mich überkam ein Gefühl der Übelkeit, als ich ihr süßliches Parfüm in dem Pelzkragen roch.
    Sie stürzte wieder zur Küchentür hinaus. Mit ruckartigen Bewegungen schwang sie eine große Taschenlampe und leuchtete wahllos umher. Der weiße Strahl durchschnitt die Nacht und beleuchtete geisterhaft tanzende Schneeflocken. Sie klammerte sich ans Geländer und starrte ins Dunkel. » WENN ICH EUCH FINDE «, kreischte sie, » DANN KASTRIER ICH EUCH BEIDE! «
    Erneut rannte sie los, zurück ums Haus auf die andere Seite. Als sie verschwunden war, nahm ich Walt und stapfte los, bahnte mir meinen Weg durch den oberschenkeltiefen Schnee. Weg von dem Haus und hinein in den Schneesturm.

32
    Verrückt zu werden war eine äußerst seltsame Erfahrung gewesen. Du hattest immer geglaubt, dass du es mitkriegen würdest, dass ein Teil deines Verstandes immer noch in der Lage wäre, die Distanz zu wahren, alles von außen zu betrachten und mit Gedanken wie »Nun, das ist zwar ungewöhnlich, aber es scheint unvermeidlich zu sein« zu kommentieren. Doch es war ganz und gar nicht so, an jenem Tag in der Tiefkühlkostabteilung des Supermarkts, als diese Dame, die du aus deiner Theatergruppe kanntest, dir ihre Hände auf die Schultern legte und auf dich einredete. Du konntest sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, aber da waren keine Worte. Nein. Du sahst nur, dass sie weinte. Über ihre Schulter hinweg konntest du in der Tür eines Tiefkühlschranks, voll mit verschiedenen Pommes-Sorten (da war bereits diese Stimme in deinem Kopf, die sagte: »Oh, die da würden meinen Jungs zum Kotelett schmecken«), dein Spiegelbild erkennen. Du trugst deinen Pyjama und einen Bademantel. Die Sachen waren voller Flecken – Ei, etwas Blut vielleicht. Und dein Haar … Jesus, dein Haar. Du hattest schon lange aufgehört, dich in der Wohnung auch nur in die Nähe eines Spiegels zu begeben. Ungewaschen und Gott weiß wie lang es war, es sah aus wie fettverklebtes Stroh, buschig und strähnig, von Schweiß und Tränen ins Gesicht gepappt. Du warfst einen Blick in deinen Einkaufskorb, von dem du gar nicht wusstest, dass du ihn trugst. Darin lagen eine Literflasche Smirnoff, ein Raumspray, Vogelfutter – du hattest gar keine Vögel – und Teigtaschen mit Hackfleischfüllung (Craigs Lieblingssorte). Dann fiel dir auf, dass die Marktleiterin und ein Sicherheitsmann neben euch standen und nervös beobachteten, wie die Frau auf dich einredete (du konntest jetzt ein paar

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