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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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verstärkt.
    Craig hatte es dir einmal anhand seiner Physikhausaufgaben erklärt: dass beispielsweise die Kraft einer Explosion unter Wasser viel verheerender wirkt. Es hatte etwas mit der Dichte des Wassers zu tun. Du warst gerade dabei, Kartoffeln zu schälen, und hattest ihm nicht wirklich aufmerksam zugehört.
    Du wärst bereitwillig all diese Tode gestorben, die du dir ausgemalt hattest. Sämtliche Tode, die du dir jemals vorstellen konntest, und noch viele, viele mehr. Einen nach dem anderen, um nur fünf Minuten mit ihm zu haben. Fünf Minuten, um den verdammten Kartoffelschäler beiseite zu legen und ihm zuzuhören, wie er über seine Hausaufgaben sprach.
    Wenn du betrunken warst, hattest du all die ausgeschnittenen Zeitungsartikel hervorgeholt und brütend über ihnen gehockt: Craigs Gesicht auf der Titelseite des Daily Record . » VERMISST! « Fotos der Polizeitaucher am Flussufer. Diese Silhouetten – Junge A, B und C. Dann später, nachdem der Minister sich eingeschaltet hatte, die Fotografien von Derek Bannerman (14), Thomas McKendrick (13) und William Anderson (13). Du hattest sie angestarrt, warst mit dem Finger über ihre Gesichter gefahren, hattest dich deinen Fantasien hingegeben. Die Neunziger kamen und gingen. Es hatte nicht viel gefehlt, und dein Leben wäre vorbei gewesen. Mit Mitte fünfzig von Leberzirrhose dahingerafft.
    Doch dann passierte etwas.
    Deine letzte Glückssträhne lag so lange zurück, dass du eine Weile brauchtest, um es als Segen, als Chance zu erkennen.
    Kurz nach der Jahrtausendwende starb Stephens Tante Myra. Sie hatte in Inverness gelebt, und ihr wart euch nie begegnet. Sie war eine alte Jungfer und Stephen ihr einziger lebender Verwandter gewesen. Tante Myra, eine dieser alten Damen, die zwei Häuser besaßen und fünfzehn Sparbücher unterm Bett horteten, hatte ein beachtliches Vermögen angehäuft. Ein Anwalt überreichte dir aus heiterem Himmel einen Scheck über 180000 Pfund. Du hattest dein unerwartetes Erbe mit einer Kiste Smirnoff Blue Label gefeiert.
    Als du einige durchzechte Tage später voll bekleidet auf dem Sofa lagst – umgeben von leeren Flaschen, vollen Aschenbechern, und mit getrocknetem Erbrochenem auf deiner blauen Strickjacke –, hattest du einen deiner seltenen klaren Momente. Und der führte dich zu einer ganz besonderen Einsicht.
    Du konntest dich mit dem Geld natürlich so schnell wie möglich zu Tode saufen.
    Oder du konntest dir holen, was man dir vorenthalten hatte. Gerechtigkeit. Wiedergutmachung. Rache. Wie immer man es nennen wollte.
    Du spültest den restlichen Wodka die Toilette runter, trankst nie wieder einen Schluck und hattest eine neue Berufung. Du wurdest zum Detektiv.

33
    Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie ich das, was ich in jener Nacht tat, geschafft habe. Diese Geschichten über schlummernde Drogendepots im menschlichen Körper, so eine Art Superadrenalin, das dafür sorgt, dass Menschen angreifenden Haien davonschwimmen oder Mütter Autos von ihren Kindern heben? Sie sind definitiv wahr.
    Nach dem Aufprall verspürte ich einen pochenden Schmerz im rechten Bein. Mit Walt auf der Schulter, einem dreißig Kilo schweren Bündel Elend, eingewickelt in eine North-Face-Jacke, die mir zumindest Teile der Brust und des Rückens wärmte, humpelte ich durch den Schnee. Meine Stiefel und Hosenbeine waren klitschnass, sämtliche Extremitäten taub. Der Schnee peitschte mir ins Gesicht. Schweiß und Wasser liefen mir in die Augen, mit gefrorenen Wimpern blinzelte ich in die pechschwarze Nacht. Es waren locker zwanzig Grad unter null. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir eigentlich gingen. Ich wollte bloß möglichst weit weg von ihr, wobei der Schnee zwar unser Vorankommen erschwerte, sich aber in gewisser Hinsicht als echter Glücksfall erwies: Er fiel so dicht und schnell, dass er unsere Spuren verwischte. »Alles wird gut. Keine Angst«, versuchte ich meinen weinenden, wimmernden Sohn zu beruhigen, wann immer ich die Luft dazu hatte. Meine Schläfen pochten, mein Geist irrte ziellos, delirierend umher, während ich langsam in einen tranceartigen Zustand verfiel.
    Ich war wieder William Anderson, damals in Schottland, an der Schule. In der Dunkelheit, im Schneegestöber vor mir, glaubte ich Bannys Gesicht zu erkennen. Riesenhaft, schrecklich, die Mundwinkel zu einem höhnischen Grinsen verzogen, flüsterte er mir grauenhafte Dinge zu. »Du bist immer schon eine kleine Schwuchtel gewesen«, sagte er. Und: »Mein Dad hat mich in den Arsch

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