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Das Geburtstagsgeschenk

Das Geburtstagsgeschenk

Titel: Das Geburtstagsgeschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Vine
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hast du gedacht, es ist eine anständige Gegend«, stellte Iris fest.
    »Ganz genau.«
    Was wäre wohl geschehen, wenn ich ihn und Juliet an jenem Abend nicht auf der Warwick Avenue gesehen, wenn ich mich nicht zwei Minuten ans Geländer gelehnt und den Kanal und die Lichter bewundert hätte? Hätte er uns jenen Besuch und weitere Besuche bei den Lynchs verschwiegen, bis die Katastrophe eingetreten war? Ich vermute es. Aber ich war dort stehen geblieben, und so kam jetzt alles ans Licht.
    Sean Lynch machte auf. Er habe seinen Augen nicht getraut, sagte Ivor, als dieser Mann – dieser Maurer oder was immer er war, dieser frühere Kleinkriminelle, dieser Verdächtige im Mordfall seines Freundes Sandy Caxton – Juliet die Hand auf die Schulter legte und ihr einen Kuss auf die Wange gab.
    »Das war gewöhnungsbedürftig«, gab er zu. »Jetzt haben wir natürlich eine andere Situation. Ich hatte mir eingebildet, er würde sie ›Miss Case‹ nennen. Ich dachte, sie würden unendlich dankbar sein.«
    »Wann wirst du die Dinge endlich so sehen, wie sie sind, Ivor?« Iris war außer sich. »Während wir hier sitzen, überlegen diese Leute bestimmt, wie sie dich am besten ausnehmen können.«
    »Nein, das tun sie nicht«, widersprach Ivor flau. »Philomena war sehr beeindruckt. Sie könne kaum glauben, dass ich tatsächlich bei ihr in der Wohnung sei. Ein leibhaftiger Parlamentarier, sagte sie immer wieder, ein Minister der Krone.«
    »O mein Gott«, stöhnte Iris. »Das träume ich nur.«
    »Das Wiedersehen mit Dermot war schlimm«, fuhr Ivor fort. »Ich hatte ihn als munteren jungen Kerl in Erinnerung, als einen, der lebhaft gestikulierte, in die Hände klatschte, mit den Fingern schnippte. Jetzt kann er sie nicht mehr bewegen. Er kann gehen – oder vielmehr schlurfen. Er redet wie die Daleks in D r.   Who, wie ein Zombie. Juliet hat mir hinterher gesagt, dass ganze Bereiche des Gehirns ausgefallen und für immer verloren sind.«
    Bei diesem ersten Besuch hatte Mrs. Lynch ihnen Tee vorgesetzt und einen »Mr. Kipling«-Kuchen. Sie ließ sich ausführlich über die Mr.-Kipling-Kuchen aus und wie gut sie seien, allerdings kämen sie nicht an die Kunzle-Kuchen heran, die man in ihrer Jugend hatte. Lass gut sein, sagte Sean immer wieder, das interessiert doch keinen, was soll denn Mr. Tesham von dir denken? An jenem Tag war Ivor noch Mr. Tesham für die Lynchs. Dermot hatten sie ein Handtuch als Serviette um den Hals gebunden, während er seinen Kuchen aß. Er schmierte sich das ganze Gesicht mit Schokoladenguss voll, und Philomena musste einen nassen Waschlappen holen und ihn abputzen. Er schien Ivor nicht zu erkennen. Dem fiel ein Stein vom Herzen. Auf dem Weg zu den Lynchs hatte er sich vorgestellt, Dermot würde es wie Schuppen von den Augen fallen, er würde aufspringen und ihn verfluchen. Während Dermot seinen Kuchen aß und den rötlich braunen Tee aus seinem Becher trank, erkannte Ivor – mit echtem Mitgefühl und tiefer Bestürzung, denke ich –, dass Dermot dazu nicht mehr in der Lage war, dass er in einer anderen Welt lebte, einem Ort der Schatten, des Nichtverstehens, des Vergessens.
    Ein Mensch wie Sean, sagte Ivor, sei ihm noch nie untergekommen. Und so etwas gab er selten zu. Die Skrupellosigkeit dringe ihm aus allen Poren, er sei eine wandelnde Bedrohung. Wenn man Probleme habe, sei es sicher gut, so einen Mann auf seiner Seite zu haben.
    »Und du glaubst, dass er auf deiner Seite ist«, sagte ich.
    »Manches von dem, was er sagte, deutet darauf hin.«
    Iris stieß einen undefinierbaren Laut aus. »Was meinst du mit Bedrohung?«
    »Sie richtet sich nicht gegen mich. Ich hatte mit Juliet vereinbart, beim ersten Mal nicht von Geld zu reden. Ich sagte nur, ich würde gern etwas für sie tun, ich würde wiederkommen, dann würden wir darüber sprechen.«
    Zwei Tage später war er dann tatsächlich wiedergekommen, diesmal ohne Juliet. Er hatte sich für sechs Uhr abends angesagt und brachte eine Flasche Champagner mit. Während Iris ihn fragte, wie er auf eine so hirnrissige Idee gekommen sei, dachte ich an den Champagner, den er an dem Geburtstagsgeschenk-Abend in unserem Kühlschrank hatte liegen lassen. Ivor liebte Champagner, »das prickelnde Vergnügen in jeder Lebenslage«, wie uns die Werbung gern glauben machen möchte, betrachtete ihn als Allheilmittel für alle Übel, den idealen Problemloser, den Eisbrecher par excellence, den Königsweg zu Lust und Libido.
    Wieder machte Sean die Tür auf und

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