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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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fügt die Erkenntnisse in ihnen zusammen und kann dann besser schlafen.
    Mit der Aufdeckung des Geheimnisses hat das wenig bis gar nichts zu tun. Schließlich müssen sich auch in der Relativitätstheorie alle Beobachter über die Geschwindigkeit des Lichtes einig sein. Aber welche Entfernung das Licht zurückgelegt hat, das bleibt unausgesprochen. Genauso wie Ilja, erzählt auch die Physik nicht alles. Aber so etwas, das würde ich auch nie von einem Menschen erwarten. Wer kann schon von sich behaupten, sich so gut zu kennen, dass er alles über sich sagen könnte? Wäre das nicht sogar eine Art Betrug an sich selbst, Betrug auch am Gegenüber, der, genauso wie man selbst auch, schon ein anderer wird, während er zuhört und spricht und atmet? Und alles, alles kann sich für einen Menschen verändern, der über die Straße geht und an der nächsten Ecke einen anderen Menschen trifft, seine Geschichte hört und dabei begreift, dass nur Liebe und Freundschaft uns vor Fragen stellen, die das verändern, was wir unser Leben nennen.
    Der Ereignishorizont, den Ilja und ich betreten haben, ist von irgendeinem Punkt des Himmels aus betrachtet sicher nur so groß wie ein Pixel, allerhöchstens ein Pinienkern. Meine Erlebnisse sind physikalisch gesprochen an der Grenze zur Raumzeit alles andere als messbar. Und trotzdem konnte ich ihnen nicht entkommen. Würde ein Physiker meine Gefühle von einem Stern aus mit einem noch nicht erfundenen Gerät betrachten, könnten sie als etwas gedeutet werden, das Lücken füllt und vorbeigeht (linguistische Lebenslöcher stopft) und wie Nebel durch das All weht. Wo also setzt die Bedeutung meiner Gedanken und Gefühle an? Kann ich überhaupt irgendetwas wichtig nehmen, irgendetwas erzählen, wenn ich den Kosmos in meine Sprache einbeziehe, oder macht mich der Kosmos nicht nur noch einsamer, noch mehr allein als das Mädchen mit den Schwefelhölzern einsam war?

    Mit dem Mädchen aus Andersens Märchen hatte ich bereits als Kind Mitleid, weil es sich so tief verirrt hatte, gefangen war im Labyrinth seiner Vorstellungen und Gedanken. Deshalb musste sie sterben. Sonst hätte es losgehen und irgendwo in jener Dezembernacht unterkommen können. Aber das Mädchen glaubte, die Schwefelhölzer könnten es wärmen und nachhaltig vor Kälte bewahren. Was würde das Mädchen über die Streichhölzer erzählen, an denen es sich in einem bitterkalten Winter wärmte, bis der Tod kam, um sie zu erlösen? Sind nicht unsere Liebesgeschichten manchmal mit ihren Schwefelhölzern vergleichbar? Ich weiß es nicht, ich bin nicht das Mädchen mit den Schwefelhölzern, obwohl ich ihm sehr ähnlich gewesen bin, damals, als ich noch nicht wusste, was mein Vater mit Libellen und Kindern gemacht hat.
    Wer alles über sich erzählt, der versteckt das Wesentliche, und meistens hat er eine tiefe Grube in sich und einen linguistischen Trick zur Hand. Es ist egal, ob man dabei Physiker oder Schriftsteller ist. Ich habe schon bemerkt (in früheren Büchern und Texten), wie raffiniert ich mir selbst eingebildet habe, etwas über mich zu erzählen. Und jedes Mal, wenn ich den Schlusssatz schrieb, wusste ich, dass ich noch viel im Geheimen halte, ja sogar das Geheimnis in mir schütze, weil ich über mich erzähle, um mich am Ende ganz unsichtbar zu machen. Adressen und Telefonnummern suggerieren eine Sicherheit, die wir in Wirklichkeit nicht haben. Wir wollen uns einfach vorstellen, dass wir jemand Überprüfbares sind. Jemand mit einem festen Wohnort, jemand mit einem Namen. Wir wollen uns an unseren Glauben halten, wie ich mich damals auf der dalmatinischen Insel Lastovo gämsartig an einem Fels festgehalten habe, bevor die große Welle kam, die mich von ihm fortriss. Dabei weiß ich vom ersten geschriebenen Wort an, dass ich auch nur geschrieben habe.
    Nadeshda. So nennt man mich jetzt, weil ich allen gesagt habe, dass ich so heiße. Und weil ich nicht mehr die andere Frau bin, nicht mehr die Physikerin, die auf hohen Schuhen jeden Tag zu ihrem Institut eilt wie früher die Frauen zur Morgenmesse geeilt sind, damals, als ich ein Kind unter vielen Kindern war, das an den Wochenenden im Dorf herumstreunte, als sei der Staub meine Mutter, als habe nur jene rote Erde ein Anrecht auf mich.

7
    Meine Tante Filomena und ich gingen an den Wochenenden oft aus der Stadt weg. Wir nahmen den Bus und fuhren ins Niemandsland, zurück zu meinem Dorf. Es war eine Art Ritual. Gleich nachdem meine Eltern verschwunden waren, haben wir

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