Das Gedächtnis der Libellen
damit begonnen. Meine Tante hatte anderntags vor der alten Holztür gestanden und sich sofort meiner angenommen. Ich ging gerne mit ihr weg. Die Stadt war ein Versprechen. Es gab dort ein Kino. Es hieß »Freiheit«, meinte aber natürlich nicht die existentielle Freiheit, sondern jene, die der Kommunismus zu bieten hatte. Ich liebte die weiße Leinwand mehr als alles andere auf der Welt. Und dennoch, einen Monat später, fehlte mir das Dorf. Ich wollte zurück, aber nicht für immer, nur für ein Wochenende. Die Tante spürte es, sah es mir an, dass es mir in der Stadt immer an irgendetwas mangelte. Sie sah es an meinem Gesicht, dass es nötig war, alles stehen und liegen zu lassen und zum Bahnhof zu gehen. Dann nahmen wir den nächsten Bus. Eine Art Verdunkelung habe mein Gesicht eingenommen, sagte sie mir später. Bevor ich anfing zu weinen, gingen wir schon gemeinsam zum Busbahnhof. Noch heute verspreche ich mir so viel von den Bahnhöfen dieser Welt, noch heute glaube ich, dass Busse, Züge und Flugzeuge magische Geräte sind. Immer noch scheint eine Reise die beste aller Heilmethoden für mich zu sein. Jedenfalls habe ich mich schon oft bei dem Gedanken erwischt, das Reisen könnte mich glücklich machen. Tante Filomena ertrug einfach keine Tränen, so wie Ilja später keine Tränen ertragen hat und wie ich überhaupt immer nur Menschen getroffen habe, die nie in der Lage waren, Tränen als etwas Vorübergehendes anzusehen. Sie sind kein Unglück, sagte ich dann, Tränen versuchen nur, das Unglück loszuwerden.
Tante Filomena war der Grund für meine Tränen egal. Sie glaubte, Tränen seien unnütz und hielten lediglich von konkreten Taten ab. Die Richtigkeit dieser amerikanischen Idee, so jedenfalls nannte sie ihre Überzeugung, wollte sie mir mit jedem Ausflug ins Grüne beweisen, wollte zeigen, dass das Ansehen der Landstraße, der Bäume, der draußen gehenden und stehenden und Obst verkaufenden Menschen sie vertreiben konnten.
Das schaffte sie auch, es stimmte ja, ich hatte es selbst früh erfahren. Das Sehen änderte vieles. Auch mich änderte es, mich und meine Trauer. Ich spürte es schon auf dem Weg zum Bahnhof, an der Hand der Tante, sah, wie das Sehen mich veränderte, wie es an sich schon etwas anderes in meine Empfindungen brachte, wie alles durch das Gehen und Sehen und nochmaliges Hinschauen eine andere Bedeutung bekam, der Zeitungskiosk, das Grüßen der Nachbarn, ihr Zurücknicken, das Schlendern, das Lachen der anderen, das eigene Lachen, die fürsorgliche Akribie, mit der meine Tante die Busfahrscheine für uns kaufte, ihren Rock glatt strich, den Lippenstift nachzog und ihre dunkelblonden Haare mit der Hand richtete, als würde man sie gleich für eine Zeitschrift fotografieren.
Auf der Busfahrt hielt meine Trauer an, und das Vorbeihuschen der vertrauten Landschaften und Orte, die ich schon in- und auswendig kannte, schrieb sich in mich wie ein fortwährendes Ankommen und Abschiednehmen ein. Es ist mir seit jener Zeit auch für alle Zeiten geblieben. Ein Adressbuch meiner Blicke. Alles steht darin noch geschrieben, fast ist es egal, welchen Bus oder Zug ich besteige und in welchem Land ich mich gerade befinde. Irgendwann gibt es immer einen Augenblick, in dem sich alles mit jenen ersten Fahrten verbindet, und als ich einmal Ilja am Bahnhof verabschiedet habe, er in ein Taxi gestiegen war, um zu seiner Frau zu fahren, da haben die alten Bilder sich über die neuen gelegt. Alles verdichtete sich palimpsestartig zu jenem alten Gefühl des verändernden Sehens, des Unterwegsseins, das ich einst so tief erlebt hatte. Jede Bewegung jenes Berliner Nachmittages schrieb sich ein in mich, jedes Lächeln, die Worte des Taxifahrers, Iljas Gesichtsausdruck, die Art, wie er seine Wimpern hob und dann rasch den Blick zu Boden senkte, wie er zur Tür ging, sie auf eine Weise aufmachte, als würde er sich doch noch umdrehen, bei mir bleiben, wenigstens eine Umarmung lang. Aber dann stieg er zielstrebig ein. Diese Zielstrebigkeit tat mir weh. Er drehte sich nicht um. Aus dem Taxi winkte er dann kurz, wie sich Kinder untereinander zuwinken, deren Kindheit bald vorbei sein wird, so dass ich wusste, er meint mich, er weiß, in seinen Gedanken weiß er, dass er nur mich meint, er winkt mir, wie er noch nie einem anderen Menschen zuvor gewunken hat. Und er weiß, er winkt dabei sich selbst. Dem Ende seiner eigenen Kindheit.
Aber wie die Kindheit vergeht, so verging auch dieser Moment für immer, natürlich
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