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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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für immer, ohne eine Spur von Schicksal für mich zu bedeuten. Ich wusste es, Ilja würde niemals bei mir bleiben und keine Umarmung wäre so lang und so gut, dass sie nur meine und seine, dass sie nur unsere Umarmung hätte werden und bleiben können. Wie aber ging nach jenem Winken, bei dem ich zu Iljas Spiegel geworden war, der Tag für ihn weiter? Wie wurde er damit fertig, dass wir uns in der Nacht zuvor und in den frühen Morgenstunden geliebt hatten, wie zwei Herzverletzte, die am Verhungern waren, und würde er jetzt, am späteren Nachmittag, wenn er seine Frau vom Flughafen abholte, gleich danach auch mit ihr schlafen? Immerhin trafen sie sich nach zwei Wochen Trennung im Ausland wieder, hatten jetzt, dachte ich, so etwas wie Ferienzeit miteinander. Würde die Frau mich, die andere, an ihm riechen? Und er? Würde Ilja es können, es noch an diesem Tag können, würde er noch heute mit ihr das Gleiche tun wie mit mir noch am Morgen? Wenn er sie noch liebt, dann nicht, dachte ich. Aber wie liebt ein verheirateter Mann eigentlich die eine und wie die andere Frau?

    Ein Mann, der vergeben ist, liebt dich auf eine Weise, als hinge alles in seinem Leben davon ab, dass er dich ganz und gar liebt. Du gewöhnst dich schnell daran. Weil du nicht verstehst, dass es mehr um ihn als um dich geht; er liebt dich mit einer existentiellen Not, dass dir schwindelig wird, schnell wird dir schwindelig, und in der gleichen Schnelligkeit gewöhnst du dich an ihn, so, wie man sich auch an gute Stoffe gewöhnt und später die schlechten sofort erkennt, gleich an der Art, wie sie auf der Haut liegen. Dann geht er weg, dieser Mann, mit seinem Alles und lässt dich mit deinem Nichts zurück. Er hat dein Nichts vergrößert, er konnte nicht anders als weiterziehen. Konnte man so auf Dauer leben?
    Man konnte sich doch schon seit jeher nur durch das Bittere hindurcharbeiten. Etwas anderes blieb einem nicht übrig, und dann, erst dann, konnte man versuchen, es den Pflanzen gleichzutun, konnte den Kopf mit allen seinen Gedanken zur Sonne, ins Helle drehen, wo auch immer man ein Stückchen Himmel für sich entdeckte.
    Das glatte Leben gibt es nicht, das Gute kann man sich nicht stehlen. Es wird einem immer nur geschenkt. Vielleicht müsste man in den Schulen den Kindern das richtige Nehmen beibringen, müsste ihnen zeigen, wie man das Leben pflückt, als sei es eine saftige Frucht, in die man hineinbeißen durfte und die man weitergeben musste. Denn solche Lebensfrüchte gehören einem nicht allein, es gibt sie nur im Plural für den Plural. Ilja hatte geglaubt, sein altes Pflücksystem würde sich weiter so erhalten wie bisher und er könnte sich einfach alles nehmen, weitergehen, vergessen, zurückkommen, geben und geben (oh!, Ilja konnte wie kaum ein anderer schenken) und weggehen. Wer die Grenze des Spiels erkennt, wird vom Spiel getragen. Andernfalls wird das Spiel hungrig und erstickt sich und seine Spieler von selbst.

    Ilja hat die Grenze immer bei sich gehabt, er hat sie in seinem Wesen mitgebracht. Er selbst war die Grenze, Ilja ist nicht mit mir erwachsen geworden. Ilja ist kein Mensch, der alles aufgibt und der zu früh einen einzigen Satz sagt. Ilja wüsste sonst nicht, wie man lebt. Er hat schon viele Sprachen gelernt (er behauptete, es seien Zwölfkommafünf, aber er verriet mir nichts Genaueres über den Bestand vor und die Namen nach dem Komma). Viele Visa waren in Iljas Pass verzeichnet. Er kannte sich mit der Fremde aus. Und wenn Ilja von Anfang an den einen Satz gesagt hätte, den ich gebraucht habe, wenn er ihn (wenigstens, um mir einen Gefallen zu tun) gesagt hätte, dass er mich nicht genug liebt, dass seine Liebe nicht reicht für uns, dann hätte ich ihn niemals in Amsterdam besucht. Eine solche Zugfahrt wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich hätte niemals auf meinem Balkon gestanden und wäre niemals mehr neu, nicht ein einziges Mal neu geworden, zusammen mit meiner alten Wunde am Fuß, zusammen mit Arjetas bitterem schwarzem Kaffee.

    Das Alte und das Neue werden sichtbar, wenn die Nähe zu einem Menschen nicht mehr nur ein Gedanke ist. Deshalb bereue ich meine Reise nach Amsterdam nicht. Ich habe Ilja glauben müssen, weil es Wahrheiten gibt, die nicht immerwährend und trotzdem keine Lügen sind. Es gibt Menschen, die kommen in dein Leben und machen einen Bettler aus dir. Andere wieder verwandeln dich in einen König – die einen können nicht lieben, die anderen lieben dich so, dass du mal König, mal

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