Das Gedächtnis der Libellen
Esel. Trotz der anstrengenden Arbeit in der Schule hatte sie immer noch genug Kraft, mich an den Nachmittagen an ihre Sehensbeweise heranzuführen, sogar noch bevor sie ihren schwarzen Mokka trank.
Sehensbeweise, das war ihr Wort für diesen Unterricht. Sie hatte den Wunsch, mir das Sehen zu erklären, so nannte sie das, was sie mit mir über Jahre hinweg übte. Das Sehen muss gelernt sein, sagte sie. Sie nannte schon damals immer nur Leben, was mir als Schmerz erschien. Aber sie war sich sicher, dass der Schmerz zum Leben dazugehörte, dass es aber sehr darauf ankam, ihn genau zu betrachten, nicht wegzuwünschen. Sie sagte, wünsche dir nie etwas weg, das da ist. Wünsche dir nie etwas, das nicht da ist. Wünsche dir überhaupt nichts. Ich verstand nicht wirklich, was sie von mir wollte, aber es klang ein bisschen so, als sei es schon verboten, an Schokolade zu denken, wenn es keine Schokolade gab.
Als Kind wollte ich meiner Tante Glauben schenken, aber ich habe es nicht bis zum Letzten getan. Ich liebte zu sehr Schokolade, wollte Tante Filomena aber gerne zeigen, dass sie mir wichtig war und ich nicht etwa an ihren Ideen zweifelte. Doch tat ich genau das, denn ich kannte gar kein Denken ohne ein Wünschen. Sonst, hatte ich mir vorgestellt, wäre das Denken doch streng genommen so etwas wie Zeitverschwendung. Warum ich das damals so aufgefasst habe, das weiß ich nicht mehr. Ich habe Tante einfach nichts davon erzählt. Das Gute gehörte doch auch zum Wunschgebiet, begriff sie denn etwas so Einfaches nicht? Und sie, die Tina Modotti und Frida Kahlo liebte, anfällig für Leo Trotzki und Rosa Luxemburg war, sie hätte diesen Zustand doch mit bedenken müssen.
Ich erzählte ihr nichts von meinen Zweifeln. Das Gute war meine eigene fixe Idee, deren Entstehungsgeschichte ich nicht mehr im Kopf habe. Es ist wohl das Einzige, an das ich mich nicht wirklich zu erinnern vermag und das eine Art Naturzustand in mir darstellte. Es war mir nicht möglich, meiner Tante zu widersprechen. Ich stellte mir vor, dass ich ihr damit wehtun würde, denn ich ahnte, dass nicht nur ich, sondern jeder einmal weinen muss und dass es verdächtig war, wenn man es nie tat. Und meine Tante weinte nie. Kein einziges Mal habe ich sie eine Träne vergießen sehen. Sie kratzte sich immer nur am Kopf, wenn ihr etwas zu nahe kam, und einmal, nach einem ihrer kleinen Schläfchen am Nachmittag, bemerkte ich, dass meine Tante am Hinterkopf blutete. Es handelte sich um eine Wunde, die sie immer wieder aufkratzte, mechanisch, ohne darüber nachzudenken. Ich glaube, sie hatte damals Angst, in meiner Gegenwart zu weinen, tat es aber doch heimlich, strahlte dabei etwas merkwürdig Geheimnistuerisches aus und schaute so, als sei das Weinen eine Art Luxus, eine Frage des Zeithabens, als müsse man sich dafür einen Nachmittag frei nehmen.
Sie hat bestimmt gedacht, dass ich, zeigte sie die Tränen vor mir, dadurch alle Hoffnung verlöre. Schließlich hatte ich nur sie. Alle anderen waren fort, weggegangen, ins Ausland, über den Ozean, die Eltern, die Großeltern, und fast hätten auch die Tiere Reißaus genommen. Das Pferd hatte ein Dörfler ein paar Felder weiter weg gefunden. Gerade noch so hatte er es geschafft, uns das Tier wiederzubringen, dem Haus und mir, denn die Anderen waren lange schon nicht mehr da, allein die Tante und ich hielten noch die Stellung. Wenn wir aus der Stadt kamen, waren wir leise auf dem Hof, so leise wie Schmetterlinge leise sind, als wäre, wenn wir lauter aufgetreten wären, auch das Haus fortgegangen, das Gras, die Steinmauern, das Gedächtnis, der Ort. Bis mich Tante zu sich holte, hatte ich nicht viel Hoffnung, dass irgendjemand zurückkehren würde. Und wenn ich gehofft habe, dann nur auf die Art des armen Pferdes, das nach seiner ersten Flucht niemals wieder so glücklich wie zuvor sein konnte. Es war still, eine Art Schweigen strahlte das Tier aus, dass ich dachte, es verstehe alles, was in meinem Kopf vorging. Dann wieder dachte ich, das Pferd plane präzise seine Flucht, seinen endgültigen Ausbruch in die Freiheit. Aber ich wollte gar kein revolutionäres Pferd, ich wollte, dass wenigstens das Pferd bleibt, dass es gerne bei mir bleibt, das wollte ich vor allem auch. Damals kam mir der Gedanke, dem Pferd einen neuen Namen zu geben. Ich stellte mir vor, dass es dadurch wieder froh auf die Wiese und die Bäume in unserem Garten schauen würde, mit leuchtenden Augen und nicht mit diesem schon am frühen Morgen gesenkten
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