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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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können, wer er jetzt war und was das Spiel aus ihm gemacht hatte. Aber Ilja war nicht der spielende Mensch, Ilja blieb, wie er war. Er war nur ganz Mensch, wenn er Schuld empfand, und dann zog es ihn reuevoll an seine alte Lebensstelle zurück. Die Schuld und die Reue waren seine beiden Hauptbewegungen, und mein Platz war für ihn irgendwo dazwischen.
    Heute bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob Ilja je meine Namenswahl respektiert hat. Damals habe ich Sätze gedacht wie, der neue Name ist mein neues Leben. Ich erhoffte mir durch die Liebe irgendeine Wahrheit, an der ich mir Halt verschaffen konnte, Atem, etwas Bleibendes. Ich weiß, dass es nichts bringt, nach der Wahrheit zu suchen, aber ich muss es trotzdem tun, auch wenn ich die Wahrheit nur im Plural haben kann und Arjeta mich immer daran erinnert, dass der Plural gefährlich ist.
    Eine neue Herkunft bekomme ich dadurch nicht, das weiß ich, ich habe das von Anfang an gewusst. Ein Name ändert nichts am eigenen Gedächtnis. Er kann es nicht rückwirkend verändern. Aber irgendetwas bewirkt der neue Name doch, auch wenn es natürlich wahr ist, dass man ihn nicht kaufen kann, mit nichts. Nicht so, wie man mit Geldscheinen ein neues Kleid erwirbt, roten Klee auf der Danziger Straße in Berlin oder eine Jugendstilvase in der rue Dauphine, die bei genauer Betrachtung nur eine billige Imitation ist. Aber deshalb schreibe ich, irgendwie versuche ich schon seit Jahren auf diese Weise, mir den Glauben an das ursächliche Wunder zu erhalten.
    Die Physik hat mich lange gesättigt, die Formeln machten mir aber Jahr für Jahr immer mehr Angst. Mit den Formeln kehre ich immer wieder zu meiner Tante zurück, immer zu jenem Augenblick, in dem die Verdunkelung des Gesichts mit der Vorstellung einherging, dass ich allein auf der Welt bin, dies immer so bleiben und mich niemand erinnern wird. Man wird dich vergessen, sagte ich mir, ganz schnell wird das gehen, so wie man alte Telefonnummern vergisst, aus Städten, in denen du lange gelebt hast und mit denen du es tagein, tagaus zu tun hattest und unter denen du erreichbar warst, hundertfach, an einem einzigen Tag, für deine Freunde, für die Nachbarn, für die Vermieterin. Und dann, nur ein halbes Jahr später, als sei schon ein halbes Jahrhundert vergangen, weißt du nicht mehr, wie die Nummer ging, sie verschwindet, weil andere Nummern wichtig werden, andere Freunde, andere Nachbarn, eine andere Vermieterin. So, dachte ich, so werden sie dich alle eines Tages vergessen, begraben wirst du sein, unten drin, im Erinnerungskästchen der anderen, die wieder ganz anderen, ganz neuen Menschen ihre Herzen öffnen, und alle haben solche Herzen, diese langatmig geschichteten Herzen, nur du, du sitzt fest im Haus der Tante, im Erinnerungsdunkel deiner alten Kinderträume, und kommst nicht weg von der Zeitstelle, von der sie alle weggegangen sind und dich verlassen haben. Sogar das Pferd, denkst du, sogar das Pferd hatte seine Flucht geplant, und natürlich hast du das Tier geliebt wegen seines Freiheitsdrangs, aber du hast gewollt, dass es bleibt, denn du hast gedacht, auch das Pferd ist wegen dir von dir fortgerannt wie deine Mutter. Wie dein Vater. Wie Verbrecher hatten sie das Dorf verlassen. Angeblich waren sie in Chicago gelandet. Was taten sie dort? Meine ganze Kindheit über versuchte ich, sie mir in Amerika vorzustellen. Jeden amerikanischen Film, der in Chicago spielte, inspizierte ich wie eine Waffe, die ich eines Tages würde benutzen müssen. Alles lief auf eine Selbstverteidigung hinaus. Und wenn die Eltern wenigstens zu Schauspielern geworden wären und ich sie in Filmen hätte sehen können. Aber sie waren keine Schauspieler geworden, mussten also auch in der Ferne sie selbst geblieben sein.

    Ilja ist auch fortgegangen, von ihm hast du gelernt, wie das Muster des Fortgehens beschaffen ist. Du hast es genau erkannt, das Muster. Es hockt in dir fest, ist eine lauernde Infektion. Du selbst bringst das Muster mit, das diese Infektion ist, du allein bist es, du trägst all diese alten Magneten in dir. Du forderst die anderen förmlich dazu auf, dass sie gehen, dass sie dich stehen lassen in deinem inneren Archiv. Es ist deine ganze Art, die die anderen weggehen lässt. Sie lieben dich und sie haben Angst vor dir. Sie möchten nicht, dass du sie genau anschaust, mit deinem durchdringend verstehenden Blick. Alles siehst du, dass sie kaputte Schnürsenkel an den Schuhen und böse Worte auf der Zunge haben, sie haben sie

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