Das Gedächtnis der Libellen
Bettler wirst, je nachdem, was das Leben gerade von dir will. Denn durch sie liebt dich das Leben. Und das Leben packt dir die Koffer für beide Fälle, beides sollst du sein und lernen sollst du etwas über die Grenzen dazwischen, über die Menschen und ihre Hände, über die Fingerkuppen, die dich berühren, und darüber, welche Macht sie über dich haben, diese Fingerkuppen mit ihren Archiven aus Kindheiten, Wolken, Mutterküssen und Strandausflügen. Durch die Haut der Menschen hast du schon immer am besten gelernt, was die Liebe ist, die du nie hattest, durch ihre Wangen, Ohren, Hände, durch ihre mit dir geteilte Erinnerung, durch ihre Geschichte, die sie dir erzählt haben, halbe Nächte lang, in kleinen Segelbooten, an Ufern dreckiger Städte, in marokkanischen Betten, auf Schiffsmatten voller Flöhen und Milben. Durch das Lächeln auf ihrem Gesicht, das dich immer so schnell wie das gute Wetter draußen besticht, hast du nach der Berührung mit ihrer warmen Haut am besten etwas über die Haut gelernt. Aber vorher, da hast du immer nur über die Haut nachgedacht. Da hast du es, sagt Arjeta, Denken ist nicht Leben, auch wenn das natürlich die Philosophen arbeitslos macht.
Ich war froh, mit Arjeta über alles reden zu können. Ohne sie hätte ich nicht verstanden, dass es an Ilja war, den Satz zu sagen, es mir beizubringen, dass er mich zwar liebte, aber nicht genug liebte. Aber was für eine Liebe war es dann? Es reichte nicht aus, davon war Arjeta überzeugt, einfach nur mit der Ehefrau zu argumentieren, sie zu benutzen, um nicht er selbst zu sein. Er musste den Satz aussprechen. Gerade weil er mich liebte, hätte er mich anlügen müssen. Aber Ilja dachte überhaupt nicht daran, und so kam es dazu, dass ich das einsah, was Arjeta so unschön mit dem Hund und der Leine ausgedrückt hatte. Ilja hielt mich an der langen Leine, so, wie man einen Hund hält, damit er bei einem bleibt, aber noch genug Auslauf hat, um sich seine Freiheit vorzugaukeln. Der ungesagte Satz war die Lücke, in die ich meine ganze Hoffnung setzte. Er lag zwischen Ilja und mir wie ein nacktfüßig zertretener Spiegel. Er schrieb an mir, dieser Spiegel, an die alten Wunden machte der Spiegel sich heran. Ich hatte Angst. Der Spiegel hatte Hunger. Ich wusste nicht, wie man einen alten Spiegelhunger stillt. So etwas bringt einem niemand bei; und wenn man Einzelkind ist wie ich, da weiß man einfach nicht, wie man mit dem Spiegel spricht. Denn Geschwister wären immer auch Sprachgeschwister gewesen, aber solche Begleiter hatte ich nicht. Doch selbst wenn ich Ilja um Rat hätte fragen wollen, wäre er nicht da gewesen. Immer wenn ich jemanden etwas über die Welt fragen wollte, wurde ich traurig, denn in Wirklichkeit genügte mir ohnehin keine Antwort. Das Fragen tat ich nur so. Insgeheim glaubte ich, nur mein Vater wüsste die richtige Antwort. Er war aber fort. Seit meinem fünften Lebensjahr hatte ich ihn nie mehr gesehen. Zusammen mit Mutter ist er nach Amerika gegangen, einfach so, aus heiterem Himmel waren die beiden plötzlich verschwunden. Aber es gab Geschichten über Vater. Immer wieder hatte man in der Stadt und im Dorf vom Erbe der Libellen gesprochen. Was hatte mein Vater außer dem Geheimnis von sich dagelassen? Was es mit den Libellen auf sich hatte, habe ich als Kind nicht erfahren und meine Tante Filomena hat es mir damals nicht verraten.
Nach Iljas endgültigem Fortgehen habe ich herausgefunden, worin das Erbe meines Vaters bestand. Es war ein Erbe, von dem alle außer mir im Dorf gewusst haben. Tante Filomena hat meinetwegen versucht, es wenigstens in der Stadt geheim zu halten. Es war aber auch schon in der Stadt bekannt gewesen. Nur ich, die Tochter dieses Menschen, wusste von nichts. Jetzt erschien mir alles logisch, jetzt verstand ich, warum man mit dem Finger auf mich gezeigt hatte. Die seltsamen Blicke der Menschen ruhten noch viele Jahre nach meinem Fortgehen auf meiner Haut, fraßen sich weiterhin durch meine Schultern, Beine, Oberarme und Wangen hindurch. Heute noch weiß ich, wie es gewesen war, jenes hitzig stechende Gefühl, an den Blicken der anderen von innen her zu verbrennen.
8
Meine Tante war Grundschullehrerin. Ich glaube, die Kleinen liebten sie, weil ihr immer etwas Witziges einfiel, wenn eines von ihnen traurig war. Sie erzählte ihnen kleine Geschichten, wie eine Schauspielerin, mit einer Stimme, die sich an die ganze Welt richtete. Sie war gerecht, aber störrisch, wie ein alter dalmatinischer
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