Das Gedächtnis der Libellen
Kopf. Ich wünschte mir, dass es sich selbst nicht mehr wie eine Last, sondern wie einen Kameraden tragen würde. Vielleicht war damit der Wunsch verbunden, das Tier möge sich meiner annehmen, ich sein Kamerad werden. Mich leiten und führen und mit den Augen suchen, das sollte es tun, mein Freund sein, jemand, der mich mit seinem Blick beschützt. Doch weder mein schlauer Gedanke noch der neue Name haben dem Pferd seine ursprüngliche Freude wiedergegeben. Es ist immer ein eingesperrtes Tier geblieben, war immer allein, weil es keine Hoffnung kannte.
Ob das Pferd damit etwas zu tun hat oder nicht, dass ich mir eines Tages selbst einen neuen Namen erschaffen habe, das kann ich nicht sagen. Es ist bestimmt eine vollkommen andere Geschichte, obwohl ich immer daran geglaubt habe, dass alle Geschichten miteinander verbunden sind. Nadeshda ist aber auch ohne mich, so oder so, ein schöner russischer, ein variabler Vorname, er ist so russisch und so variabel wie ein Name nur sein kann. Nadja, Nadia, Nadina, Nadine, Nadjeschda, Nadire, Nadjeda, Nadjiba, Nadežda, Naduška, Nadija, Nadide, Nadica, Nadzije, Nadezhda, Nadera, Nadya, Nadira, Nadhari, Nadifa, Nadra, Arjeta, Arjetaiya, Nadege, Nadescha, Nadimah, Nadime, Nadin, Nadine-Anne, Nadine-Alma, Nadine-Isabelle, Nadine-Martine, Nadine-Michele, Nadine-Yvonne, Nadiye, Nadja-Aleksandra, Nadja-Anna, Nadja-Anuschka, Nadja-Charis, Nadjana, Nadjeschka, Naduah, Nadya, Nadyn, Nadyne, Nadzeya, Nadzieja, Nadika, Nadinka. All das gehört mir, kann mir gehören, wenn ich es will, aber die Namen ändern nichts an meiner Geschichte. Dennoch habe ich keinen anderen Ort, keinen anderen Weg, an dem mich die anderen als mich selbst erkennen können. Ich muss mich zwischen den Buchstaben einrichten und mein Leben finden, es anfassen, im großen Alphabet fündig werden, ohne in der Schrift unterzugehen. Dennoch kann ich nicht aufhören, mich in der Möglichkeitsform zu denken oder mich zu fragen, wer ich alles hätte sein können, für mich selbst, jenseits des Staubs und der roten Erde, für mich und für die anderen, für Ilja zum Beispiel, für ihn und mich zeitgleich, das kann ich nur ansatzweise mit der Aufzählung meiner Möglichkeiten verdeutlichen. Viele werden. Vielfach werden. Es gibt Tage, da denke ich, nichts sei leichter als das. Und dann erschlägt mich die Vielfalt der Welt. Ich habe alle Vornamen dieser Welt zur Verfügung und kann doch nicht glücklicher werden durch sie.
Und mein Nachname? Einen neuen Nachnamen, den habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht muss man sich seinen Nachnamen mit dem Leben verdienen und erfährt ihn erst an dessen Ende. Ich hatte kürzlich gleich nach dem Aufwachen den Gedanken, mich Sam zu nennen. Der Gedanke kam von alleine. Entschieden habe ich mich dazu noch nicht. Aber in jedem Fall will ich anders heißen als die Frauen in meiner Familie und anders als meine Eltern. Sam, das wäre kein schlechter Name für einen Menschen, der immer allein auf alles gewartet hat, auf alles und auf nichts, bis er verstanden hat, dass der alte, von den Eltern gegebene Name, schuld daran ist und dass Sam und Einsam letztlich ein und dasselbe ist. Jedenfalls im Deutschen. Jedenfalls für mich. Aber in einer anderen, in meiner ersten Sprache, da ist Sam nur jemand, der allein ist. Wenn ich den Unterschied zwischen allein und einsam nicht verstanden hätte, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen, unsere Gegend zu verlassen und nach New York zu gehen, nach Paris, nach Berlin. Nicht einmal der Sozialismus konnte mich davon abhalten, aber das lag auch an Jugoslawien. Unser Sozialismus, sagte Arjeta immer gerne, ließ noch Platz für Reisewillige übrig.
Ich nehme mir das Recht auf einen anderen Namen, ohne deshalb sofort heiraten zu müssen. Nicht einmal Ilja hätte ich damals nur deshalb geheiratet. Ich wollte nicht heiraten. Um eine solche Namensänderung ging es mir nicht. Und ich wollte Ilja auch nicht wegnehmen. Um das Wegnehmen ging es mir nicht. Damals glaubte ich fest daran, Ilja mehr lieben zu können als mein eigenes Leben. Wenn ich aber einen solchen Satz laut gesagt hätte, wäre Ilja unter meinen Augen sicher wieder ein bloßer Intellektueller geworden und ich hätte mir einen seiner sprachstrategischen Vorträge über dialektische Spielarten anhören müssen. Ilja sprach oft über das Spiel. Er behauptete von sich, ein homo ludens zu sein. Aber wenn das gestimmt hätte, dann hätte er bis zum Schluss durchhalten müssen. Nur so hätte er erfahren
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