Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
war, dort, beim Diokletianspalast, auf dem Markt, bei den vielen bunten Früchten, Tüchern und den großen Brüsten der Marktfrauen. Dort also würde ich mit Ilja sein, und vielleicht würde er mir Feigen kaufen, wir würden schwimmen gehen und braun werden und frühstücken und darüber reden, wie es wäre, mit dem Schiff rüberzusetzen und wie in der Kindheit an Wunder zu glauben und auf einer der gegenüberliegenden Inseln über Nacht zu bleiben und dort zu wandern, alles zu tun, wozu wir Lust hatten, so was wie Fisch essen um Mitternacht und Wein trinken am frühen Abend und neueste dalmatinische Musik hören und in den Dialekt zurückfallen wie in ein Bassin, das einen umfängt und trägt, auch in die Weite des Meeres hinaus, an eine Stelle, an der die Möwen wie Splitterwerk des Himmels aussehen und ein Vertrauen in die Weite herstellen, dass du immer weiter schwimmst, immer weiter dein Menschsein vergisst, deine Schwere, deine Krankheiten, du schwimmst und wirst getragen, der Sommer wird dein Bruder, dein Vater, dein Kind.
    Über Wochen hinweg stellten wir uns vor, wie es sein würde, in unserem Zimmer, mit dem bisschen Wind, das die Adria im Juli zu bieten hat, und ich freute mich auf das bisschen Wind und auf Iljas Gesicht, auf seine Augen, sein Lachen, die Salven, die ansteckenden, auf seinen Mund, die Hände, auf seine Stimme, die tief war und manchmal so klang, als käme sie aus einem schönen alten Instrument, und dann wurde mir beim Gedanken schwindelig, dass ich diese Stimme nur fünf Tage hören würde und danach nicht mehr, dass ich nach diesen fünf Tagen die Stimme in mir auslöschen und für immer vergessen müsste, denn du, sagte ich mir selbst, du bist doch für das Vergessen gemacht, deshalb geschieht dir das, was dir geschieht.
    Der beste Trick, den Ilja je anwandte, war, mit mir darüber zu reden. You deserve more. You are such a beautiful person . Und mir fiel nicht auf, dass er wieder in einer Fremdsprache mit mir redete, er schien mich immer persönlich zu meinen. Noch während ich mich an diesem Satz freute und das Abwesende an ihm nicht einmal im Ansatz erkannte, sagte Ilja, I need a bitch, you shouldn’t be the persona you are, I don’t need a persona, I need a dirty damn superbitch. Natürlich wollte ich keine Hure sein, nie, aber irgendetwas in mir wollte Ilja zeigen, dass ich besser als jede Hure bin. Hieß das also, dass ich, ohne es selbst zu bemerken, versucht habe, Ilja davon zu überzeugen, dass ich die beste aller Huren, ja eine vorbildliche Hure war?

    Aber Ilja hat mein Alter an meinem Lachen erkannt, er hat Sätze gesagt, die mir in die Haut übergegangen sind, warme, mediterrane Sätze, die mit mir verschmolzen sind und die ich deshalb auch nicht wiederholen kann. Liebende, die zu viel reden, sind Redner und keine Liebenden. Alles in allem hat Ilja zu viel geredet, er hat aus Wörtern Dinge gemacht, noch bevor sie überhaupt Wörter waren. Wenn ich schon immer Schriftstellerin gewesen wäre, hätte ich das wahrscheinlich erkannt. Aber ich bin noch zu sehr in die Welt der Physik-Formeln verstrickt gewesen, die Nonne und die Formeln haben mir zusammen ein Bein gestellt. Ich habe sowohl das eine, als auch das Andere hinter mir gelassen. Ich brauche eine echte Sprache. Wörter sind nicht einfach nur da in der Welt, Wörter werden erschaffen mit dem Leben. Liebe ist nur das, was man miteinander teilt, nicht das, was man aufeinander hin, auf den anderen zu denkt, sagte ich zu Ilja, wenn er unsere Liebe als romantisch bezeichnete und es im Gespräch an jene Grenze kam, die unsere Begegnungen immer bestimmte. Und Ilja sagte dann nie in unserer ersten Sprache etwas dazu, sondern immer nur in einer anderen. Mais … on partage … déjà … beaucoup, on a encore … beaucoup à partager. Zukunft! Er hatte die Zukunft in unser Leben gebracht. Ich inhalierte diese Plastik-Zukunft wie eine heilsame Droge, glaubte ihm, alles in allem bin ich eine tiefgläubige Person, auch wenn ich vor Jahren aus der Kirche ausgetreten bin. Aber mein Glaube scheint sich einen anderen Nährboden gesucht zu haben. Ich glaubte Ilja einfach alles, auch das, was er nur einmal leichthin andeutete. Die Zukunft war der Vogelkäfig, mit dem ich mich freiwillig fangen ließ. Aber etwas Schales hinterließen Iljas Sätze doch, ich wurde nicht satt an ihnen und schlaflos dazu. Da ich von klein an hungrig war, wusste ich, wie Hunger sich anfühlt. Wenn ich mit Freunden ausging, ins Theater, zum Essen oder auch

Weitere Kostenlose Bücher