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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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allein ins Kino, zog ich immer Kleider an, solche, die ich mir in Gedanken an Ilja kaufte und die ich in Gedanken an Ilja trug, alles geschah in Gedanken, und manchmal dachte ich, wenn ich auf meinem Fahrrad durch die Stadt raste und über rote Ampeln auf der Schönhauser Allee oder auf dem Kurfürstendamm fuhr, dass auch ich bald nur ein Gedanke werden würde, eine ausgedachte Frau, auch und vor allem für mich selbst, und ich nannte Ilja, den ich sprichwörtlich über alles liebte, meinen Gedanken-Ilja, Ilja, ach du Gedankenland.

    Ilja ist in meinem Leben aufgetaucht, wie Nadja in André Bretons Leben und in der Schrift (die das geschriebene Leben ist) aufgetaucht war. Ilja ist ein verheirateter Mann. Was das genau bedeutet, habe ich zunächst nicht als fixen Zustand erkannt und deshalb völlig unterschätzt. Er sei dennoch frei, sagte er, aber alles, was Ilja sagte, schien vollkommen paradox zu sein. Das Wort paradox und das Wort verheiratet waren aber für mich rein theoretische Begriffe, etwas Greifbares wurden sie erst nach Iljas Verschwinden aus meinem Leben. Dann erst hatte ich sie in ihrer vollen Tragweite geradezu physisch verstanden.
    Ilja ist ein Mann. Er wird natürlich nie in einem Irrenhaus wie Nadja landen, dazu weiß er zu viel über seine eigene Gefährdung. Er ist nie wie Nadja für mich gewesen, weil ich seine Nadja war. Noch immer stecke ich im bitteren Teil dieser Wahrheit fest, ich sage sie mir immer wieder laut, denn so gelingt es mir, mich weiter in meiner eigenen Zeit aufzuhalten, an meinem eigenen Ort zu leben. Ich muss mich mit mir anfreunden, auch wenn ich mein altes Leben am liebsten auslöschen würde. Ich weiß, solange ich das denke, wird die Vergangenheit immer versuchen, mich auszulöschen. Die Vergangenheit ist eine böse Hexe, ihr geschieht einfach nichts, aber du, du gehst kaputt an ihren leisesten Worten.

    Es ist noch nicht die Zeit der Feigen, obwohl Ilja genau jene Feigen dabeihatte, immer bei sich, in seinen Jackentaschen, getrocknete Feigen, die ich mir schon als Kind gewünscht und die ich auch gestohlen habe, aus der alten Kredenz, hinten im Keller, wo jedes Gesicht selbst aus der Rückschau noch zu einem Ungeheuer wird und wo Vater einmal stand, angelehnt an den großen alten Holztisch. Neben ihm eine Axt. Er blätterte in einem großen Album, und das Album machte mir nicht nur wegen seiner Größe allergrößte Angst.
    Es hatte so ausgesehen, als hätte ich ihn bei irgendetwas erwischt, bei einem Geheimnis, bei etwas Verbotenem, das er mir nie verzeihen würde. Du kleiner Spitzel du!, so nannte er mich. Du bist böse zu mir, das merkt sich Gott, sagte ich zu meinem Vater, und er lachte höhnisch, da war ich vier Jahre alt. Es gibt keinen Gott, Spitzelchen, den gibt es heute nicht und den gibt es morgen nicht. Ich war nicht einverstanden mit Vater, ich versuchte, mit ihm über Gott zu reden. Das Ergebnis war eine Ohrfeige und danach gleich noch eine, später dachte ich immer an das merkwürdige Zusammentreffen an der alten Kredenz, als würde ich von einer Schlange gebissen werden, ein Biss, der sich durch meine Erinnerung fraß und alles zerstörte, was ihm im Weg stand. Ich wusste, dass es etwas Böses war, das Vater versteckte, sonst hätte er Gottes Schutz anrufen können und ihn nicht verleugnen müssen. Außerdem blitzte im Erinnerungstunnel immer wieder die Axt auf. Wie war sie nur in diesen Raum gekommen? Sonst stand sie immer draußen.
    Als Mädchen war ich überzeugt davon, für Gott sprechen und ihn verteidigen zu müssen, denn er habe, so war die Erklärung meiner damals an und für sich ungläubigen Tante Filomena gewesen, nur eine Stimme durch uns Menschen. Später ist Tante eine schrecklich überzeugte Katholikin geworden. Sie glaubte sogar, dass man in die Hölle kommt, wenn man sich nicht taufen läßt. Vom Kommunismus zum Katholizismus haben es viele gebracht. Die Ismen sind Fastfood für den inneren Hunger der Menschen.

    Nicht auf die gleiche Art und Weise, aber doch mit der gleichen Absicht, versuchte ich auch, mit Ilja über Gott zu reden. Ilja glaubte an gar keinen Gott. Eigentlich verabscheute er alles, was mit dem Göttlichen zu tun hatte. Aber er wusste alles über die großen Religionen und träumte davon, Romane zu schreiben, in denen die Menschen durch sie tragisch bestimmt werden, wie in alten Zeiten. Liebesgeschichten sollten in seinen Büchern niemals gut ausgehen, alles musste fatal und verloren sein, Paare getrennt werden, weil der eine

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