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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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sephardische, der andere orthodoxe Wurzeln hatte. Ilja glaubte allem Anschein nach, dass es keine Religion geben konnte, die Frieden brachte, nicht einmal für die Liebenden. Vielleicht hatte Ilja Recht, denn was kann schon eine Religion in das Leben eines Menschen bringen, was der Mensch selbst nicht zu fühlen und zu leben imstande war, der Einzelne also, der ein Träger der Religion ist. Wie immer, stellte sich auch jetzt bei Ilja heraus, dass es egal war, worüber ein Mensch sprach. Er redete letzten Endes doch nur von sich selbst.

    Ilja hat mir anfangs das Gefühl vermittelt, wirklich mit mir zu reden, mich zu berühren, aber in der Zwischenzeit frage ich mich, ob Ilja nicht eher ein Mensch ist, der alles, was er sieht, erlebt, fühlt und berührt, als Teil eines Selbstgesprächs begreift. Möglicherweise tun alle Menschen das, was Ilja getan hat, auch ich, aber er hat im Unterschied zu mir genau gewusst, wie das Selbstgespräch enden wird: als Selbstgespräch. Keineswegs als Dialog mit mir. Letztlich blieben sich dadurch unsere Körper fremd, weil jeder auf seiner Lebensseite blieb, Ilja in seiner Ehe, auch wenn wir allein waren, sie war immer dabei. Eine ménage à trois , nur dass ich die Frau nicht sehen konnte, aber sie war da, ich konnte sie in ihm und durch ihn riechen. Und ich, ich war allein mit mir, kein Mensch kann mit einem anderen zusammen sein, wenn der andere ihm das nicht erlaubt.
    Ich habe Iljas Liebeserklärung als eine solche Einladung missverstanden und viel zu schnell, wie Kinder vom Dorf eben sind, als Wahrheit begriffen, die das Leben stützt. So eine Art Rückendeckung war sie, für die Tage des Frühlings. Also packte ich meine inneren Koffer und ging los, auf Reisen, zu ihm, alle Länder wuchsen zusammen, die ganze Erde war unser kleines Feld, wir gingen in meinen Gedanken darauf umher und hielten uns an den Händen und weckten uns mit Croissants, Milchkaffee und Sonne. Aber mitten im Unterwegssein begriff ich, dass ich mir schon bald das Rückgrat brechen würde und meine Koffer niemals würde abstellen können, nicht bei Ilja, bei so einem Mann stellte man überhaupt nichts ab, und der Grund dafür war einfach.
    Mein Ilja war noch kein Mann, mein Ilja war noch immer ein Junge, so wie ich, bevor ich Ilja traf, ein Mädchen gewesen bin, das ausgerechnet mit ihm zur Frau wurde. Ich wachte allein auf, nur in meinem unsichtbaren Sein gab es den Iljaplural, das erträumte Leben mit ihm. Die Träume fanden Anklang bei Ilja, selbst dann, wenn er sagte, du spinnst total, wir sind nur Romantiker, was zugleich immer heißen sollte, dass wir etwas Besonderes sind, dieses Besondere aber für das Leben nicht reichte. Sicher bin ich dumm gewesen, ich wusste damals nicht, dass man einem anderen Menschen auch mit Träumen schmeicheln kann. Zu einem Diebstahl war ich nicht in der Lage. Um Ilja bei mir zu behalten, fiel mir nichts anderes als die Liebe ein.

11
    Ich wollte mir Ilja nicht stehlen, weder ihn noch seine Feigen. Du musst allein zu mir kommen, habe ich gesagt, du musst dich für mich entscheiden, mit oder ohne Ehe. Die Ehe ist doch eigentlich egal, wenn du mich liebst.
    Ilja hat mich geküsst und ausgezogen, und dieses Küssen und Ausziehen war auf eine Art ein Küssen und Ausziehen, das einer Antwort glich, ich dachte, er hat mir mit seinem Körper geantwortet. Je länger Iljas Schweigen dauerte und je mehr ich die Sätze seines letzten Briefes zu vergessen suchte, desto leichter wurde es für mich, den März als einen schon vergangenen Monat zu verbuchen. Heute kommt mir manchmal der Gedanke, wenn das Denken mich so weiterdenkt, wird es jenen März bald nicht mehr geben, so wie es die Jasminstaude vom letzten Jahr nicht mehr in meinem Garten gibt. Sie hat den kalten Winter nicht überlebt.

    Der ganze Frühling war aus mir herausgefallen, wie ein Organ, das mir zuerst zugewachsen war und das ich dann, als es mir Gesundheit brachte, wieder verlieren musste, und dann blieb da eine Lücke in mir, für immer blieb sie in meinem Körper und füllte sich mit Luft. Manchmal versuchte ich, sie mit den Fingerkuppen zu ertasten, aber sie entzog sich mir, sie wanderte in mir herum, mal nahm sie sich einen Platz in meinem Gedächtnis, durchstreifte wie ein kleiner Ahasver meine Erinnerung, dann war die Lücke wieder wohnhaft in meiner Haut, in der ganzen, für Tage konnte ich niemand anderen berühren. Niemand durfte mir nahe kommen, und als die Lücke weiterwanderte, um etwas Neues in mir zu

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