Das Gedächtnis der Libellen
belagern, meine Ellenbogen, meine Knie, mein Geschlecht, da ertappte ich mich dabei, in Wunschträumen jene bewährten alten Wunsch-Orte zu errichten, an denen ich der Einsamkeit entflohen war, für kleine Menschenstunden, Wunsch-Orte, schöne, ruhige, von Marktplätzen umflorte, für ihn, für uns. Dann sprach ich zu ihm in allen unseren Sprachen, viele Sätze, mit viel Stille dazwischen. Ich sagte ihm alles, so leise und so laut wie nötig meine Liebe zu sagen war, so, als sei der Traum kein Traum und als habe das Lieben und Herumstehen im Sonnenlicht immer eine Adresse in uns, und jeder Ort, der einmal unser gewesen war, bliebe dann für immer dieser Ort, und dann sah ich ein, dass nichts für immer bleibt, dass ich von Ilja und dem aus mir herausgefallenen Frühling doch gerade das Gegenteil gelernt hatte, weil uns die Verwandlung ins Jetzt nicht gelungen war: dass alles vergeht und dass die Natur stärker ist als jeder Mensch, weil sie einfach in ihren Zyklen lebt und die Schönheit strebsam erreicht, ohne je eine Träne dabei zu verlieren. Sie überwuchert die Landschaften, die Kriegstrümmer, die vielfältigen Mauern dazwischen, die umgestürzten Öfen, Bücherregale und Kinderzimmer. Der Natur ist jede Erinnerung gleich. Sie kümmert sich um nichts, sie wächst nur, wächst und schweigt und ist beharrlich in ihrem Geheimnis, beharrlich in ihrer Kraft, von der sie uns nichts abgibt, weil wir ihre Sprache nicht sprechen.
Ilja hat gewusst, dass ich ihn nie so hätte lieben können, wie er geliebt werden muss. Ich hätte auch in unserem Zusammenleben meine alte Angewohnheit beibehalten, alles zu sehen, was er unter seinem Gaumen versteckte, unter seiner Zunge, die ganze lange Geschichte seiner Lust am Betrug. Und seine Familiengeschichte und die Art, wie Ilja sich jetzt stellvertretend für seinen Vater versteckt, dass er sich selbst für ihn, in seinem Namen, immer mehr neutralisiert, bis nichts von ihm übrig bleibt. Dann wird er alles haben und niemand sein ohne seine jüdischen Wurzeln.
Ilja hat viele Gesichter, nur wie Papier beschreibbare Gesichter, unzählige Gesichter, denen er nacheifert, denen er hinterherlebt, als seien sie sein Leben und als sei nicht unter ihnen allen nur ein einziges Gesicht, Iljas echtes Gesicht, das ich sehen durfte und das ich geliebt habe. Ein Gesicht, das ängstlich und frei in einem war, beides zugleich. Ein Gesicht, das sein eigenes Wünschen und Hoffen und die Sehnsucht, im richtigen Leben anzukommen, zeigt und nicht mehr Verstecken mit den anderen vielen Gesichtern spielt. Aber jetzt weiß ich, jetzt, da es wieder Winter ist und der Schnee auf eine Weise fällt, dass man vom Weiß her anfängt zu denken, ich weiß, dass Ilja nicht anders kann und dass es schwer und manchmal unmöglich ist, im richtigen Leben anzukommen, ohne die falschen Leben durchzuspielen. Ich selbst bin das Beispiel vieler Gesichter, die sich gegenseitig immer neue Untergesichter zugeschustert haben, um das eine traurige Gesicht, das Gesicht unter allen Gesichtern, zu beschützen und wie ein böses Geheimnis zu verstecken, denn im letzten Gesicht meiner selbst war ich ein Kind, das einen Vater hatte, der anderen Menschen, Kindern wie ich ein Kind war, die Knochen brach mit nur einem Blick.
Auch Ilja trägt das Erbe seines Vaters in sich, die Verleugnung, die Abkehr von allem Jüdischen, die Unterwerfung unter das Gesetz der anderen. Es ist ein anderer Schmerz, ein anderes Geheimnis. Iljas Vater war nur beim Militär; Marine, gesamtjugoslawisch. Als der Krieg ausbrach, quittierte er seinen Dienst. Er war kein Soldat, er war nur jemand, der sich gut in der Uniform verstecken konnte. Ilja heißt in seinem richtigen Leben wie jeder heißen könnte, jeder, nur nicht er selbst. Ich habe ihm in dieser Geschichte den Namen Ilja gegeben, einen jüdischen Namen, einen Namen, der ihn sichtbar macht. Ich weiß, das ist vermessen, obwohl ich mir längst nicht mehr vorstellen kann, einen anderen Menschen aus seinem Gedächtnisgefängnis zu befreien. Früher, viel früher, habe ich mir alles vorstellen können, auch so etwas Unmögliches wie eine derartige Befreiung.
Wenn das Leben weder drinnen noch draußen ein Gefängnis mehr ist, wird alles anders werden, von allein und nicht etwa deshalb, weil ich es will. Vielleicht wäre das große Vergessen eine Erlösung. Manchmal stelle ich mir vor, dass es so etwas gibt, einen Zeitfluss, in dem das Vergessen wohnt. Wir bräuchten nur dort Teil des Wassers zu werden,
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