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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Erinnerung habe und Ilja mir das nicht wegnehmen kann, was er sich selbst gestohlen hat.
    Einmal hat er mit der Kamera seines Notebooks auf die Straße gezeigt, auf die West Randolph Street, damit ich sehe, was dort gerade geschieht. Über seinen Computer hat er das für mich übertragen, und ich habe es auf meinem Bildschirm in Berlin gesehen. Es gingen gerade drei dicke Frauen vorbei. Und Ilja sagte, vielleicht, weil er in diesem Moment an seine schlanke Frau dachte, oh mein Gott, you are a big fat problem in my life . Und ich sagte, thank god I’m not a big fat lady . Daraufhin sagte Ilja, that wouldn’t be a problem at all. Wir lachten, wieder einmal lachten wir. Und Autos fuhren vorbei, es regnete, und für einen Moment hatte ich dieses verrückte Gefühl, das Ilja später immer mit dem Wort Einbildungskraft zu beschreiben versucht hat, die virtuelle Sehnsuchtswelt habe einen Kanal zwischen sich und der anderen, haptischen Welt geschaffen und jetzt führe dieser Kanal nicht nur in mein denkendes Herz, sondern auch direkt in meine staunenden Augen hinein. Ich fühlte, dass ich hier und dort war, in meinem Leben und bei Ilja, für ein paar Augenblicke in seiner Stadt, direkt im Café Dragonfly, das wohl irgendein gebildeter Grieche führte. Ich spürte meinen Kopf an Iljas Schulter, schmeckte seinen Cappuccino, vergaß nie die Wärme seiner Haut, nie, dass der Cappuccino reale 2 Dollar und 25 Cent gekostet hatte und besser als in Europa war. Ich war verblüfft darüber, wie echt ein metaphysisches Zittern sein kann, wenn es nur von einem einfachen Cappuccino herrührte. Niemand kann mir das nehmen. Es ist meine Art, mich zu erinnern.

    Ilja, das dachte ich jedenfalls am Anfang, war nie sentimental. Aber manchmal hatte ich das Gefühl, irgendetwas zerreißt ihn und er merkt es nicht, dass er einer ihm noch fremden Plattentektonik unterliegt und nicht einmal weiß, dass es so etwas gibt. Einmal telefonierten wir, aus irgendwelchen Gründen sprachen wir Französisch miteinander, er war in Sarajevo, ich in Berlin, und er stieg gerade in ein Taxi. Der Fahrer, sagte mir Ilja später, habe ihn wie erwünscht nach Hause gebracht und die ganze Fahrt über mit ihm Französisch gesprochen. Eine verrückte Stadt, sagte Ilja. Mir tat es weh, dass der Taxifahrer ihn nicht mehr als einen von ihnen erkannt und geglaubt hatte, mein Ilja sei ein Franzose. Ilja ist natürlich alles andere als zart besaitet, er kann alles Mögliche sein, er sieht einfach aus wie ein Franzose, wenn er Französisch spricht. Und der Taxifahrer wollte sicher nur nett zu ihm sein.

24
    Ich weiß jetzt, warum ich Libellen schon immer sehr geliebt habe. Noch bevor ich wusste, dass mein Vater sie getötet und in einem Album gesammelt hat, waren sie der Inbegriff von Schönheit für mich. Es ist eine Schönheit, die sich fortwährend entzieht. Ich wusste auch nichts von meinem Vater, nicht sein Geburtsdatum, nicht seinen Wohnort und auch nicht, ob er je in der Lage war zu verstehen, dass es mich, sein einziges Kind, irgendwo, weit entfernt von seinem Alltag, immer noch gibt. Natürlich habe ich ihn nicht so geliebt, wie man einen echten Menschen lieben kann, der hustet und schnarcht und lustig ist, aber ich fürchte, das genau war lange mein Problem, ich liebte alle Menschen, besonders aber jene, die unberührbar waren.
    Ilja war der Ansicht, genau das habe mich zunächst zur Physik, dann wieder von ihr weggebracht und zum Schreiben geführt, aber im Leben, sagte er, ginge ich an der Sehnsucht nach den Unberührbaren zugrunde. Zum ersten Mal bekam ich Angst vor ihm. Es war eine merkwürdige Art, sich vor einem anderen zu fürchten; so etwas wie Scham und Scheu empfand ich, verbunden mit dem erstmaligen Wunsch, meiner eigenen Seelenzergliederung heil zu entkommen.

    Ich bin von New York nach Paris gegangen und dann habe ich nicht mehr gewusst, wohin ich danach noch gehen könnte. Meine Imagination hat mir präzisere Grenzen gesteckt. Mir ist Berlin in den Sinn gekommen, weil dort die Mauer nicht mehr stand, und ich weiß noch genau, wie leicht es mir gefallen ist, meine Koffer in Paris zu packen und zum Flughafen Charles de Gaulle zu fahren. Ich bin die rue Mazarine hinuntergegangen, habe die Métro genommen und bin dann mit dem Zug zum Flughafen gefahren. Erst dort habe ich mein Ticket gekauft. Es hatte, so sagte ich es mir selbst, praktisch schon auf mich gewartet, wie in einem Buch eines amerikanischen Erzählers. Zwei Stunden später saß ich im Flieger,

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