Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
er sagte es ganz plötzlich und vergaß es genauso schnell wieder, wie er es gesagt hatte.
    Wenn ich von meiner ersten, zweiten und dritten Sprache redete, behauptete er, die Sache mit den Sprachen, das sei ausschließlich meine Sache, mein Thema, er habe diese Sache, dieses Thema nicht. Aber er hat eben ein anderes Gedächtnis als ich, er vergisst Dinge, damit er weiterleben kann. Jeder Mensch ist mit den Sprachen verbunden, die er spricht und fühlt. Ich habe das Glück oder das Unglück, wie auch immer man das sehen will, die Welt mit Wörtern zu erfassen. Meine erste Sprache ist die Sprache der ersten Gefühle. Ilja hat keine Ahnung, was für eine Tür er in mir aufgemacht hat. Er kann es nicht wissen, er ahnt nicht einmal ansatzweise, dass er nicht nur ein Mensch, sondern eine ganze Welt, jeder je erstsprachlich gesagte Satz, die Wiesen der Kindheit, das Grün, das Gelb, das Blau, die Schiffe Dalmatiens, dass er die Möwen, die Berge, das Meer ist für mich. Ilja wird das nie von mir hören. Er würde denken, dass er dadurch nicht er selbst für mich ist. Aber das stimmt nicht. Nur weil Ilja Ilja ist, kann ich Nadeshda sein, für ihn und für mich.

    Mit Ilja hatte ich vor nichts Angst, nicht einmal vor mir selbst. Ilja sagte, dass er mit mir immer er selbst sei. Beides hätte mich nachdenklich stimmen sollen, hat es aber nicht. Er habe zwar Angst vor mir, das spiele aber keine Rolle, er spüre so ein leichtes Gefühl in sich, es steige immer dann auf, wenn wir zusammen seien. Und vorher? Vorher hat er dieses Gefühl nie gehabt. Jedenfalls sagte Ilja das, und ich hatte so einen melancholischen Verstand, dass ich ihm sofort glaubte. Diese Melancholie machte mich einerseits traurig, andererseits übermütig, denn ich lebte so, als wäre in mir und in meinem ganzen Leben von jetzt an für immer und immer wieder alles, aber auch alles neu. Unsere Liebe wirkte sich auf mein Leben wie das Erlernen einer neuen Sprache aus. Stammeln, Schüchternheit, Neugier, Lust, Freude, welterobernde Gefühle – ein Satz hatte das Leben schon erklärt, ein neues Wort einen Kontinent begehbar gemacht. Die physische Liebe erklärte mit einem Mal alles, eine Kraft ging von ihr aus, die mich für immer aus dem Warten herausbrachte, vom Sehnsuchtsgleis in einen fahrenden Zug setzte, und es gab kein Entkommen mehr. Ich konnte den Zug nicht mehr anhalten.
    Über jeden von Iljas Sätzen dachte ich stundenlang nach. Was hatte er damit gemeint, dass er nun »er selbst« sei, keine Rollen spiele, wenn er mit mir Zeit verbrachte. Aber woher hat er gewusst, wer er wirklich ist, frage ich mich später, viel später, als ich wieder allein bin und Ilja in Amerika ist und er die Green Card gewonnen hat und ich ihm verschwiegen habe, dass wir Ezra haben, dass Ezra unser Kind ist. Woher weiß mein Ilja, wie er ist, wenn er echt ist? Ich frage ihn, ich weiß es einfach, sagt er am Telefon.

    Ein unangekündigter Anfall von Trauer erfüllte meine Haut bei der Erkenntnis, dass es normal war, mehrfach echt zu sein, und dass Ilja auch ohne mich anders echt war, in Amerika, wo er bald nach San Francisco umziehen würde und jetzt in Chicago war, wo es eine West Randolph Street und ein Café namens Dragonfly gab und der Lake Michigan so grau war wie meine seit Jahren ausgewaschene Jeans.
    Dort sitzt Ilja oft und trinkt Cappuccino und bringt mir bei, dass man in Bosnien Cappuccino Caffućino nennt und dass es dort, wo er gerade lebt, Frauen gibt, die dänisch und afrikanisch in einem sind und die Feinheit einer Dänin mit dem Wunder eines afrikanischen Busens auf eine Art zusammenbringen, wie ich es mir dort in Europa einfach nicht vorstellen könne. Er sagt, eigentlich ist die vollbusige Dänin ziemlich bosnisch. Bosnien bringt mich um, sage ich, lass mich bloß in Ruhe mit diesen Geschichten, ich bin anfällig für alles Bosnische. Die Art, wie sie dort die Wörter aussprechen und Witze machen, steckt mich an, und sofort werde ich mitten in Berlin heimatlos an mir selbst. Ilja lachte, mit niemandem sonst konnte ich so sehr wie mit Ilja über meine Heimatlosigkeit lachen. Heute erginge es mir anders, vielleicht, weil ich mich nicht mehr heimatlos fühle.

    Wenn ich jetzt an das Café Dragonfly denke, glaube ich nicht mehr daran, dass es so eine feste Größe in meinem Leben gewesen ist, aber dann, wenn ich schlafen gehe und die Augen zumache, bin ich froh, froh, dass Ilja immer in dem Café saß und wir stundenlang telefoniert haben, dass ich meine

Weitere Kostenlose Bücher