Das Gedächtnis der Libellen
Balkan zu Russland richtig mitbekommen hatte. Aber plötzlich schien es, das war gegen vier Uhr morgens, als sei Ilja sogar mit Marc Chagall, ganz besonders aber mit Sigmund Freud verwandt. Erst an dieser Stelle habe ich bemerkt, dass Ilja Charlie Chaplin ähnlich sah und ein wirklich guter Schwindler, ein letztlich doch bravouröser Spieler und natürlich ein sehr guter Erzähler war.
Ich habe ihn mit den beiden großen Hotelkissen beworfen, und er hat mich, wie man das so sagt, wenn man mit dem Körper und nicht mit dem Kopf denkt, mit Küssen übersät und zwei Mal hintereinander an und wieder ausgezogen. Ilja kann sehr gut küssen und hat diese Phantasie, die dich schon nackt macht, wenn nur sein Auge auf dir ruht, und er wusste, wie das Auge ruht: zielgerichtet. Er sah einen nicht einfach nur an, er sah in einen hinein, und manchmal hatte ich das Gefühl, mein Inneres werde dabei irgendwie hervorgeholt, nach außen gebracht, so dass ich es durch Iljas Sehen nun auch selbst sah.
Manchmal hatte ich Angst vor diesem Blick, aber meine Sehnsucht danach, von Ilja erkannt zu werden, war größer, und er hat mich auch nie erniedrigt, um mich zu besitzen. Unsere Begegnung hat alle Nuancen der herbstlichen Melancholien in mir gelöscht, so, als hätte es nie irgendeine Art von Herbst in meinem Leben gegeben. Die Kleider, die Gefühle, die Jahreszeiten – alles wurde bunt. Ilja wollte kein Held sein, er wurde zu oft in seinem Leben umgelenkt, wie ein Fluss, durch seine stramme Zeit – Osteuropäer leben so, dass man noch immer Gedichte über sie schreiben kann. Mühelos passen Anna Achmatowas Zeilen auf Ilja. Sein Leben wurde auf allen seinen Etappen umgelenkt, zu einem anderen Leben, in einem anderen Tal, durch andere Landschaften rollte es dahin. Wie in Achmatowas Gedichten ging es in Iljas Leben zu. Vielleicht braucht er die andere Frau, wie man eine Mutter braucht, damit man seine Herkunft nicht vergisst. Denn auch er, genauso wie ich, weiß nicht mehr, wie die Ufer des ersten Lebens waren. Meine Art, dem Vergessen gegenüberzutreten, ist, alles in meinem Kopf zu archivieren, auch die Lücken. Alles habe ich mir gemerkt, jedes Wort, jeden Augenaufschlag, jedes Leuchten seiner Iris, die Wangen, ihre Helligkeit, die Feinheit seiner Hände, die kleinen Bügelfalten an den bunten T-Shirts, den Geruch seines Weichspülers, die er vielleicht nicht einmal selbst gekauft und ausgesucht hat. Kein Wort, keine Zwischenstufe von Wort und Atem, keine Schwindelei, keine widerrufene Wahrheit geht mir aus dem Kopf. Wenn das Sprichwort stimmt, nach dem man länger lebt, wenn man ein kürzeres Gedächtnis hat, dann werde ich allein wegen Ilja früh an mir selbst sterben.
23
Am Anfang, in Amsterdam, hat Ilja gesagt, alles sei da zwischen uns. Und das hörte sich so an, als müssten wir uns nicht einmal mehr füreinander entscheiden. Aber das war falsch, ich habe das damals nicht gewusst. Man muss sich immer füreinander entscheiden. Anders kann man nicht leben. Wenn Ilja bei mir war, habe ich immer vergessen, Fragen zu stellen und Dinge zu entscheiden. Das ist eine schlechte Angewohnheit aus meiner Kindheit. Ist Ilja da, ist alles gut. Ich schaue mir nur sein Gesicht an, seine Augen, liege in seinen Armen und denke, er ist jetzt hier, die Muttermale auf seinen Schultern beweisen es mir. Sonst, sonst träume ich nur von seinen Schultern, und die Muttermale sind der Beweis dafür, dass es ihn gibt, mit seiner ganzen Haut, bei mir, und nicht nur in meiner Erinnerung.
Mein Gedächtnis speichert alles. In der Erinnerung bin ich reicher als alle anderen. Es ist schrecklich, mein Gedächtnis ist ein Schwamm, ich merke mir alles. Seit der Kindheit geht das so, ich bewundere alle Menschen, die Dinge vergessen können, die an nichts hängen, die Details vergessen können – ich nicht, ich finde Details lebenswichtig und mache allen das Leben zur Hölle, denen meine Erinnerung zur Last wird. Ilja sagte manchmal, ich müsse lernen, Dinge zu vergessen, lernen, mich nicht immer so präzise zu erinnern. Obwohl ich es selbst gerne anders gekonnt hätte und das Vergessen besser beherrschen wollte, hörte sich das damals für mich an, als habe Ilja mich gebeten, ihn weniger zu lieben. Einmal hat er das sogar ausgesprochen, please love me less, hat er gesagt. Er sprach immer Englisch, wenn ihm etwas zu nahe ging und wenn ich nicht mehr auf sein Psst, silenzio achtete. Die erste Sprache sei für die andere Frau reserviert. So etwas sagte mir Ilja,
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