Das Gedächtnis der Libellen
und als ich in Berlin-Tegel ankam, wusste ich, das wird meine Stadt werden, trotz November, trotz Regen, trotz des unfreundlichen Taxifahrers, der mich zur Bernauer Straße brachte und einen meiner Koffer wie eine Bombe auf die Straße warf, vor der er dann selbst flüchten musste.
Der Sozialismus hockte noch ein wenig in der Berliner Luft (ich muss das Wort hocken sagen, denn er hockte wirklich, er stand nicht, er lag nicht, er hockte in der Luft), und es war genau der richtige Übergang für mich, genau der richtige Ort, um das Warten aufzugeben und in der Gegenwart zu leben.
Später, als ich nach Schöneberg gezogen bin, ist es schlimmer geworden. Die Libellen in meinem Kopf waren nicht mehr wegzudenken. Und Ilja ist dann mein Zeuge geworden, den ich schon in der Kindheit gebraucht hätte, aber da hat es ihn einfach nicht gegeben. Ich frage mich, ob ich das beklagen oder dafür eher dankbar sein sollte, weil ich schließlich nur auf diese Weise gelernt habe, dass die Abwesenheit eine hungrige Lücke ist und dass man von Hoffnung erfüllt zwar warten kann, aber gerade dabei hoffnungslos wird.
Wenn ich das nicht gelernt hätte, wäre Ilja nur eine schöne Illusion für mich gewesen. So war er wenigstens für Augenblicke greifbar. Aber vielleicht ist alles eine Illusion, weil alles ein Spiel ist, sowohl die Erinnerung als auch das Jetzt, die Zukunft ohnehin. Vielleicht kommt es nur darauf an, das Metier des Vergessens früh genug zu beherrschen, bevor es einen selbst beherrscht. Illusion ist eine Ableitung vom lateinischen Verb illudere , das aus dem Verb ludere für »spielen« und der lokalen Präposition in zusammengesetzt ist. Solche kleinen grammatischen Exkursionen unternahm ich immerzu, sie konnten mir zwar nicht den Liebeskummer und auch nicht die Sehnsucht nach Ilja nehmen, aber sie bauten durchaus eine Brücke zu meiner Kindheit. Warum? Jede Kindheit ist ein Terrain des Spiels. Libellen gehörten zu meinem Spiel dazu.
Sie waren eine Einladung, an meine eigene Flügelkraft zu glauben. Es klingt natürlich erfunden, wie etwas, das es nur in Büchern gibt, aber es ist wahr, die Libellen kamen gerade dann immer auf unseren Hof, wenn ich besonders einsam war, und landeten auf meiner Schulter, als wollten sie mir ihre Gefährtenschaft versichern, mir sagen, dass ich keineswegs allein war.
Warum ich die Flügel der Libellen hören konnte, das weiß ich nicht, aber ich konnte es, und wenn man einmal gehört hat, wie Libellen fliegen, dann vergisst man es nie mehr. Ich wusste danach auch, dass das Wetter riecht.
Meine Tante war oft weg, als Lehrerin hatte sie noch andere Kinder, viele Kinder außer mir, die ganzen Schulkinder, die sie vom ersten bis zum vierten Schuljahr begleitete, und dann kamen neue Kinder in ihr Leben und sie in das Leben der neuen Kinder. Deshalb war ich oft allein zu Hause, das zwar ein Zuhause war, aber ein Übergangszuhause war es doch. Ich dachte oft an meine Eltern, fühlte mich aber auch von einem Gewicht befreit, das ich gar nicht weiter beschreiben konnte. Ich war froh, dass sie weggegangen waren, so, wie Großvater und Großmutter weggegangen waren, nach Amerika, wohin auch sonst. Leicht war es trotzdem nicht. Sie haben mich allein zurückgelassen, so, wie Vater von seinen Eltern zurückgelassen worden ist. In den Lücken, die die Sehnsucht etabliert, entstehen Spielräume der Wahrheit. Diese private Eltern-Mathematik fand ich als Erwachsene immer einleuchtend. Die Großeltern waren für meine Eltern ein Beispiel. Ich glaube, dass alle Menschen nur vor sich selbst flüchten, um nicht an den eigenen inneren Gleichungen zugrunde zu gehen. Auch ich habe das getan. Aber mich haben Menschen wie Ilja angezogen, eine Freundin wie Arjeta hatte mehr Einfluss auf mich als mein ganzer Stammbaum zusammen.
Und doch vermisste ich meine Eltern manchmal, obwohl sie mir nie einen Grund dafür gegeben hatten, sie zu vermissen. In diesen Augenblicken der Sehnsucht suchte ich Verbündete, und da es keine Menschen gab, wurde die Luft meine einzige Verwandte. Erst sah in diesen Augenblicken das Pferd aus dem Stall heraus, als wollte es mir mitteilen, aber ich, ich bin noch da. Dann kam der Esel auf den Hof, und danach, immer, als folgten sie einem Zeichen, schwirrten die Libellen um mich herum, scharenweise, dabei gibt es bei uns weit und breit kein Wasser, nur ein paar vom Regen aufgefüllte Löcher, in denen sich Kuhköpfe spiegeln. Ich kann das Auftauchen der Libellen genauso wenig beweisen, wie
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