Das Geflecht
Ärmel. «Er hat recht, Jörn.»
«Und geben Sie mir das Funkgerät!», bat Schultze. «Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass wir die Verbindung wiederherstellen können, aber für alle Fälle möchte ich es dabeihaben.»
Böttcher zögerte kurz, bevor er ihm Tias Grubenfunkgerät übergab. Dann zog er Bringshaus mit sich fort und steuerte den Wagen des Notarztes an.
Schon wieder bin ich allein mit diesem Kerl, dachte Bringshaus wütend. Was hindert mich eigentlich daran, auf der Stelle auszupacken und der Sache ein Ende zu machen? Habe ich mehr Angst vor den Folgen – oder vor ihm?
Er schalt sich selbst wegen seiner Feigheit. Es gab nicht einmal eine vertraute Person, der er sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit eröffnen konnte. Flüchtig dachte er daran, sich unter einem Vorwand davonzustehlen und seine Exfrau anzurufen, verwarf den Gedanken aber sofort. Karin würde vermutlich am allerwenigsten zu ihm halten. Es war das Beste, wenn sie vorläufig überhaupt nicht erfuhr, dass ihr Sohn verunglückt war. Andernfalls würde sie vermutlich sofort mit ihremneuen Lebensgefährten angerast kommen, einen fürchterlichen Aufstand machen, die Rettungskräfte herumkommandieren und ihrem Exmann vor aller Ohren eine Standpauke halten. Im Übrigen: Hatte sie nicht gesagt, sie wäre heute abend mit ihrem Lover in der Spätvorstellung im Kino? Dort konnte er sie ohnehin nicht erreichen – Handyverbot.
«Hast du irgendeine Ahnung, wo der Höhlenausgang liegen könnte?», unterbrach Böttcher seine Gedanken. «Du hast doch seinerzeit das Gelände vermessen. Denk mal nach!»
«Was glaubst du eigentlich, was ich die ganze Zeit tue?», schoss Bringshaus wütend zurück. Schon seit sie den Hauptschacht hinaufgeklettert waren, hatte er sich den Kopf zermartert, war jedoch auf keine zündende Idee gekommen. «Ich habe nicht die geringste Ahnung! Mein Job war, das Bergwerk auf Stabilität zu prüfen. Ich habe keine geodätische Analyse des gesamten Naturschutzgebiets gemacht. Weiß der Himmel, ob es da irgendwo eine Felsspalte gibt.»
Er verstummte, als er neben dem Rettungswagen nicht nur den Arzt und seine Helfer, sondern auch zwei Personen in Zivil bemerkte. Eine davon war die Reporterin Carolin Frey, die eben versuchte, den Arzt in ein Gespräch zu verwickeln. Etwas abseits stand ein älterer Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe, womöglich ein Schaulustiger.
Der Notarzt erblickte Bringshaus, winkte ihn heran und begutachtete kritisch die geplatzte Lippe.
«Eigentlich sollten Sie ins Krankenhaus fahren», meinte er. «Zwei oder drei Nahtstiche könnten eine Narbe verhindern.»
«Ach, so schlimm ist es nicht», murmelte Bringshaus. «Ein Pflaster wird genügen.»
«Wie Sie meinen.» Der Arzt zuckte die Achseln und griff nach einem Koffer mit Verbandszeug.
«Ah, Herr Bringshaus!», nutzte Carolin sofort die Gelegenheit.«Da sind Sie ja! Ist es wahr, dass Ihr Sohn zusammen mit den anderen verschüttet wurde?»
«Da Sie es offenbar schon wissen, warum fragen Sie?», gab Bringshaus gereizt zurück.
«Ich hörte gerade, dass die Rettungsmannschaft jetzt nach einem weiteren Zugang zur Höhle sucht, wahrscheinlich in einiger Entfernung vom Berg. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo das sein könnte?»
Bringshaus, der diese Frage zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hörte, wollte bereits etwas Heftiges erwidern – doch er riss sich zusammen, als Böttcher ihm unauffällig eine Hand auf den Arm legte.
«Nein, keine Ahnung», erwiderte er beherrscht. «Im ganzen Umkreis der Stadt sind keine Höhlen bekannt, also muss der Zugang bisher verborgen geblieben sein.»
«Vielleicht ist die Höhle mit einem anderen Grubenbau verbunden», warf plötzlich der ältere Mann ein, der bislang abseits gestanden hatte. Er sprach mit rauer, leicht krächzender Stimme.
«Wie kommen Sie darauf? Es gibt kein anderes Bergwerk in der Nähe.»
«Vor 1900, als es noch nicht die nötige Technik für Erkundungsbohrungen gab, hat man oft Probestollen angelegt», erklärte der alte Mann. «Wenn sie nicht ergiebig waren, wurden sie wieder aufgegeben, und man buddelte an einer anderen Stelle weiter. Manche alten Bergbaugebiete sind durchlöchert wie ein Schweizer Käse.»
«Sie kennen sich damit aus?», fragte Bringshaus.
«Ich war früher selbst Bergmann», bestätigte der Alte, «leider nicht hier in der Gegend. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie ein unbekanntes Loch in der Erde suchen, dann sollten Sie einen einheimischen Bergmann auftreiben.
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