Das Geflecht
Sie glauben garnicht, wie viele Gruben mit den Jahren einfach vergessen wurden! Es wächst buchstäblich Gras darüber, irgendwelche Leute bauen Häuser auf dem Gelände, und eines Tages beschwert sich jemand bei der Gemeinde, dass in seinem Keller der Boden einbricht, weil eine unversetzte Strecke darunterliegt.»
«Eine was?», fragte Carolin.
«Ein nicht zugeschütteter Stollen», dolmetschte Bringshaus und musterte den Sprecher interessiert. Was der alte Mann sagte, war nicht von der Hand zu weisen. In der Tat gab es in Bergbaugebieten oft uralte Anlagen, die auf keiner Karte verzeichnet waren. «Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo wir suchen sollen. Wir haben nur die Richtung: Südosten.»
«Sie sollten einen Bergmann fragen», wiederholte der alte Mann. «Irgendjemanden, der früher hier gearbeitet hat.»
«Das ist doch eine gute Idee!», sagte Carolin, deren journalistischer Instinkt geweckt war.
Bringshaus winkte ab. «Das Bergwerk wurde 1966 geschlossen. Es wäre ein Wunder, wenn irgendjemand, der hier gearbeitet hat, heute noch am Leben wäre.»
«Gibt es einen Verein ehemaliger Bergleute?», fragte der alte Mann.
Bringshaus schüttelte resigniert den Kopf.
«Eine Chronik des lokalen Bergbaus?»
«Ja, aber sie liegt in der Stadtbibliothek. Vor morgen Mittag kommen wir da nicht heran.»
«Irgendwelches Brauchtum? Vielleicht eine Kapelle der heiligen Barbara? Sie ist die Schutzpatronin der Bergleute.»
«Es gibt eine Steinfigur auf dem Zentralfriedhof, die Sankt Barbara genannt wird», sprang Carolin ein, die Expertin für Lokalangelegenheiten. «Auf dem Sockel steht der Name des Stifters. Augenblick, vielleicht fällt er mir wieder ein … Helmholtz oder so ähnlich.»
«
Helm schrodt
?» Bringshaus, der plötzlich einen Gedankenblitz hatte, blickte erstaunt zu ihr auf. «Den Namen kenne ich! Er ist auf einer Tafel eingemeißelt, auf der tiefsten Ebene des Bergwerks: G. Helmschrodt.»
«Na, das ist doch eine Spur!», meinte Carolin, ganz in ihrem Element, und zückte ihr Handy. «Vielleicht gibt es im Telefonbuch eine Familie dieses Namens.»
«Aber Sie können doch um diese Zeit niemanden anrufen! Es ist nach Mitternacht.»
Doch Carolin winkte ab und zog sich ein paar Schritte zurück, das Telefon am Ohr.
«Das ist sinnlos», meinte Bringshaus kopfschüttelnd. «Die Tafel stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wer immer sich dort verewigt hat, ist seit mindestens fünfzig Jahren tot.»
Böttcher jedoch, der das Gespräch stumm verfolgt hatte, blinzelte ihm zu. Lass sie nur machen!, schien sein Blick zu sagen.
«Sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben», riet der alte Mann. «Meine Tia tut das schließlich auch nicht.»
«
Ihre
Tia?» Bringshaus blickte auf.
«Ach, verzeihen Sie.» Der alte Mann lächelte und streckte die Hand aus. «Jürgen Traveen.»
«Traveen?» Bringshaus starrte ihn überrascht an. Er war vermutlich erst Mitte sechzig, wirkte jedoch älter und nicht besonders gesund. Auf seinen Zügen lag ein grauer Schatten, als sei seine Gesichtshaut nicht ausreichend durchblutet, und sein Atem pfiff ein wenig. Die dunkelblauen Augen jedoch strahlten vertrauenerweckend. «Sie sind …?»
«Tias Vater», nickte der Alte. «Leider erfahre ich oft erst aus den Medien, was mein Mädchen gerade wieder treibt. Die Reporterin dort, Frau Frey, hat meine Telefonnummer herausbekommen und mich angerufen. Ich wusste von gar nichts, binsozusagen aus dem Sessel gefallen, sofort ins Auto gesprungen und erst vor einer Viertelstunde hier angekommen. Leider zu spät – der Feuerwehrchef sagte, dass die Funkverbindung abgerissen ist.»
«Stimmt», bestätigte Böttcher, der den Alten aufmerksam musterte.
«Die Rettungshelfer wollten mich nicht mal in den Stollen lassen», klagte Traveen. «Und das mir, der ich zwanzig Jahre in einer Kohlenzeche geschuftet habe und mich dort unten wahrscheinlich besser zurechtfinden würde als jeder von denen!»
«Sie hätten ohnehin nichts tun können», sagte Böttcher.
«Na ja, immerhin bin ich ein Angehöriger!
Sie
hat man doch auch hinuntergelassen, oder nicht?»
Böttcher nickte.
«Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?», erkundigte sich Traveen.
«Hartmut Böttcher. Ich bin ein Freund von Herrn Bringshaus.»
Tatsächlich?, dachte Bringshaus. Dass du mein Freund bist – oder jemals warst –, würde ich mittlerweile bezweifeln.
«Freut mich, freut mich», erwiderte Traveen zerstreut und reichte auch Böttcher die Hand.
Weitere Kostenlose Bücher