Das gefrorene Licht. Island-Krimi
Hávamál konfrontiert worden war. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »hier steht, dass der Vers beschreibt, wie unwohl man sich fühlt, wenn man von anderen abhängig ist.«
»Was uns nicht wirklich viel sagt«, entgegnete Matthias. »Das weiß doch jedes Kind.«
»Ich finde, es sagt eine ganze Menge«, erwiderte Dóra. »Der Vers wurde doch bestimmt nicht grundlos in Grímurs Grabstein eingraviert. Jedenfalls ist er nicht einfach aus der Luft gegriffen.« Sie widmete sich wieder dem Internet und versuchte, den Vers auf dem Stein hinter dem Hotel zu finden, was nicht einfach war. Dóra entdeckte lediglich einen Hinweis auf eine Stelle in den Volksmärchen von Jón Árnason, in der es um ausgesetzte Kinder ging. Trotz mehrmaliger Versuche gelang es ihr nicht, den vollständigen Text der Märchensammlung im Internet zu finden. »Dieser Vers hat mit ausgesetzten Kindern zu tun«, sagte Dóra und beschrieb, was sie gefunden hatte. »Hier steht: Wenn man ungetaufte Kinder aussetzte, wurden sie zu Wiedergängern. Ihr Heulen, das Wiedergängerheulen, ist zu hören, wenn der Wind über ihre Ruhestatt bläst, also über den Ort, an dem sie zurückgelassen wurden. Dann steht hier noch, dass Wiedergänger sich fortbewegen, indem sie sich auf ein Knie stützen und sich mit der Hand vorwärtsziehen.« Sie blickte vom Bildschirm zu Matthias. »Hast du so was durchs Fenster gesehen?« Matthias warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Dóra drehte sich wieder zum Monitor und starrte darauf. »Wenn du das nächste Mal einen Wiedergänger siehst, musst du aufpassen, dass er sich nicht dreimal im Kreis um dich herumbewegt, sonst verlierst du den Verstand. Versuch lieber, den Wiedergänger zu verscheuchen, denn dann weicht er zurück und findet am Ende seine Mutter.« Sie schaute erneut zu Matthias und grinste breit.
»Du bist wirklich sehr lustig«, sagte er sauer. »Das war kein Witz mit dem Geräusch, ich hab es wirklich gehört!«
»Ich müsste in der Märchensammlung nachsehen.« Dóra gähnte. »Aber das kann warten.«
»Sehe ich auch so, das eilt nicht«, meinte Matthias. »Mein Gefühl sagt mir, dass dich das nicht zu dem Mörder führen wird.«
»Man weiß nie, mein Lieber«, entgegnete Dóra und startete eine letzte Suche, diesmal nach »Tuberkulose«. Sie überflog die wenigen Seiten, die sie zu dem Thema fand. »Was für ein Pech«, sagte sie. »Ein Antibiotikum gegen Tuberkulosebakterien kam 1946 auf den Markt. Ein Jahr nach Guðnýs Tod.« Sie las noch etwas weiter, schloss dann die Suchmaschine und stand auf. »Ich kann verstehen, warum Guðný und ihr Vater Bjarni nicht in ein Sanatorium wollten. Nach dem, was ich gelesen habe, waren die Versuche, Tuberkulose in den Griff zu bekommen und die Leute zu behandeln, alles andere als angenehm. Künstlich ausgelöstes Kollabieren eines Lungenflügels, Entfernung von Rippen und so weiter, was aber nicht half und den Patienten in den meisten Fällen zum Krüppel machte.«
Matthias tippte ihr sanft auf die Schulter. »Das ist ja alles wahnsinnig interessant, aber ich glaube, du solltest dich mal umdrehen und gucken, wer gerade reingekommen ist.«
Dóra schaute zum Foyer, wandte ihren Blick aber sofort wieder ab. »Was will die denn hier? Glaubst du, sie hat mich gesehen?«
»Ob sie dich zusammenschlagen will?«, flüsterte Matthias ihr ins Ohr. »Aber ich glaube, du bist ihr überlegen.«
Dóra reagierte nicht darauf, sondern schaute sich verstohlen um. Sie beobachtete, wie Jökull, Kellner und Rasenmäher, auf die Bäuerin von Tunga zuging, die unschlüssig vor der verlassenen Rezeption stand. Er trug Anorak und feste Schuhe und umarmte Rósa herzlich, bevor sie zusammen hinausgingen. Beide schienen Matthias und Dóra nicht weiter zu beachten. »Was zum Teufel haben die denn miteinander zu tun?«
26 . KAPITEL
»Ich weiß, dass du gleich Feierabend hast, Bella«, sagte Dóra beschwichtigend in den Hörer. »Ich bitte dich ja auch nicht darum, das heute Nacht für mich zu erledigen. Du kannst es morgen früh tun.« Demonstrativ schüttelte Dóra den Kopf, während sie dem Jammern der Sekretärin lauschte. »Bella, ich dachte doch nur, das wäre für dich als Pferdenärrin eine perfekte Aufgabe.« Dóra wunderte sich schon lange darüber, wie Bella mit ihrem gewaltigen Körperumfang auf ein Pferd steigen konnte. »Du musst nur rausfinden, ob es irgendeine Verbindung zwischen Pferden und Füchsen oder zwischen Füchsen und Morden gibt.« Sie seufzte und schloss die
Weitere Kostenlose Bücher