Das gefrorene Licht. Island-Krimi
großem Getue den Raum. Er hatte einen Medizinstudenten dabei, den Gauti vom Sehen her kannte, an dessen Namen er sich aber nicht erinnerte. Er hatte sich letzte Woche schon im Institut herumgetrieben, aber noch nie an einer Obduktion teilgenommen. »Guten Tag«, sagte Hrannar herablassend und zeigte auf seinen Begleiter. »Das ist Sigurgeir, Medizinstudent im zehnten Semester. Er darf zuschauen. Eine solche Leiche haben wir schließlich nicht jeden Tag.«
Gauti nickte dem gespannt lächelnden Sigurgeir zu und zog das Laken von der Frau. Er beobachtete die Reaktion des Studenten. Der junge Mann schaffte es kaum, seine Abscheu zu verbergen. Hrannar merkte nichts davon und beugte sich so weit zum Kopf der Toten hinunter, dass seine Nase ihn fast berührte. Dann richtete er sich wieder auf, holte ein Diktiergerät hervor und begann mit seinem Vortrag. »Auf dem Tisch liegt eine unbekannte Frau. Sie wurde an der Südküste von Snæfellsnes tot aufgefunden. Gesichtszüge aufgrund schwerer Verletzungen und Misshandlung post mortem unkenntlich ...«
»Papa ist gar nicht nett. Er schläft immer nur. Gylfi auch. Ich will zu dir.«
Dóra rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. Sie hatte das Telefon vom Nachttisch genommen, obwohl sie noch nicht richtig wach war. Bevor sie ihrer Tochter antwortete, räusperte sie sich. Dóra erinnerte sich dunkel an einen Traum über Geister und weinende Säuglinge, aber die Erinnerung verflüchtigte sich und war sofort aus ihrem Gedächtnis verschwunden. »Hallo Sóley. Du bist schon wach?« Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor acht. »Puh, es ist noch sehr früh, Liebling. Heute ist Samstag. Papa und Gylfi möchten noch ein bisschen schlafen, damit sie später ganz tolle Laune haben.«
»Hm.« Die dünne, piepsige Stimme klang sehr vorwurfsvoll. »Die haben nie tolle Laune. Ich find’s nur bei dir schön. Du bist nett.« Der Empfang war sehr schlecht, es klang fast so, als säße Sóley in einer Tonne.
Schön, solange das noch so ist, dachte Dóra, die aus der Erfahrung durch die Erziehung ihres Sohnes wusste, dass diese Anbetung nicht mehr lange andauern würde. Aber Sóley war erst sechs Jahre alt, und auch wenn sie bald sieben wurde, hatte Dóra noch ein paar Jahre vor sich, in denen sie die Hauptrolle in Sóleys Leben spielen würde. »Ich komme morgen Abend nach Hause. Dann machen wir was Schönes. Wenn du willst, bringe ich dir Muscheln vom Strand mit.«
»Ein Strand! Ist da ein Strand?« Sóley seufzte. »Warum darf ich nicht bei dir sein? Ich will auch an den Strand.«
Dóra verfluchte sich selbst, den Strand erwähnt zu haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie selbst am Meer wohnten, war sie einfach nicht auf die Idee gekommen, dass ein Strand solche Begeisterung hervorrufen würde. »Ach, Liebling, du weißt doch, dass du dieses Wochenende bei Papa bleiben musst. Vielleicht können wir später im Sommer nochmal herkommen.«
»Mit dem Wohnwagen?«, fragte Sóley aufgeregt.
Dóra stöhnte innerlich. »Vielleicht. Mal sehen.« Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als diesen Klotz hinter sich herzuziehen und hatte noch nicht einmal gelernt, wie man damit zurücksetzte. Die wenigen Ausflüge mit dem Wohnwagen hatten unter der Bedingung stattgefunden, dass Dóra nicht rückwärts fahren musste. »Jetzt lauf und schalt den Fernseher ein, das Kinderprogramm fängt gleich an. Papa und Gylfi wachen bestimmt bald auf. Okay?«
»Okay«, sagte Sóley betrübt. »Tschüs«, fügte sie noch hinzu.
»Tschüs. Ich vermisse dich«, sagte Dóra und legte auf. Eine Weile betrachtete sie den Hörer, verwundert darüber, wie diese Situation zustande gekommen war. Ihre Ehe war in verhältnismäßig kurzer Zeit völlig vor die Hunde gegangen, und sie hatte sich nie wirklich die Zeit genommen, die Sache aufzuarbeiten. Elf Jahre lang war alles mehr oder weniger in Ordnung gewesen, aber dann ging es schnurstracks bergab. Hannes und sie hatten sich anderthalb Jahre später scheiden lassen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil die Kinder zwischen zwei Wohnsitzen hin- und hergerissen wurden. Aber daran ließ sich im Moment nicht viel ändern; sie würde nicht wieder mit Hannes zusammenziehen, selbst wenn er einen Weltrekord im Rückwärtsfahren mit dem Wohnwagen aufstellen würde. Sie sprang aus dem Bett, verdrängte die bedrückenden Gedanken und stellte sich unter die Dusche. Anschließend zog sie Jeans, Turnschuhe und einen Kapuzenpulli an. Nun war sie
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