Das Gegenkreuz
bedeckt war. Ob das Gesicht einem Toten gehörte, war nicht zu erkennen, aber die Gestalt vor mir bewegte sich nicht.
Ich wollte sie aber genauer sehen, holte meine Lampe hervor und leuchtete sie an.
Vor mir hockte ein alter Mensch mit einem bleichen Gesicht, das von zahlreichen Falten durchzogen war, und selbst der Mund mit den Lippen sah aus wie eine Falte.
Der Anblick hatte mich zwar nicht schockiert, überrascht war ich trotzdem. Der Körper wurde von einem Umhang oder einer Kutte verdeckt, in deren Ärmel die Hände der Gestalt verschwunden waren.
Der Mann sah aus wie ein Toter, aber er war nicht tot, denn er hatte gezuckt, als er angeleuchtet wurde. War das jemand, den ich draußen als Steinfigur gesehen hatte?
Im Moment lief bei mir einiges durcheinander, aber ich stellte meine Frage und senkte dabei den Kegel der Leuchte ein wenig.
»Wer bist du?«
Die Gestalt bewegte sich leicht. Ich war überrascht, dass ich sogar eine Antwort erhielt.
»Ich bin ein Suchender.«
»Und was suchst du?«
»Alles.«
Diese Worte hätte ich mir auch selbst geben können. »Wer alles sucht, wird letztendlich nichts finden«, erwiderte ich ebenso vage.
»Das mag sein.«
»Aber du sitzt in einem Kloster...«
»Ja...«
»Kennst du auch seinen Namen?«
»Es gehört den toten Engeln.«
»Ausgezeichnet. Aber glaubst du denn, dass Engel auch sterben können? Oder werden sie nur verdammt?«
»Beides können sie.«
»Gut, dann sind wir uns einig.« Ich führte das Gespräch normal weiter. »Bist du nun ein Engel oder ein Mensch? Was ist dir lieber?«
»Ich bin ein Mensch, glaube ich, doch ich habe den Weg zu den Engeln gesucht und bin hier in diesem Kloster gelandet.«
»Auf der Insel.«
»Du hast es erkannt.«
»Aber es ist nicht immer vorhanden oder sichtbar. Manchmal kann man es nicht sehen.«
Er hob den Kopf etwas an. »Andere können es sehen, und manchmal auch die Menschen.«
»Das habe ich erlebt, denn sonst stünde ich nicht hier. Kannst du mir deinen Namen nennen?«
»Wozu? Namen vergehen wie der Schnee in der Sonne.«
»Ich werde dir meinen sagen.«
»Bitte.«
»Ich heiße John Sinclair.«
Er sagte zunächst nichts, aber ich wurde den Eindruck nicht los, dass er ihn kannte. Der unruhige Blick verschwand wieder. Er schaute mich jetzt direkt an, schwieg allerdings weiterhin.
»Warum redest du nicht?«
»Es ist nicht nötig.«
»Hast du geahnt, dass ich komme?«
»Irgendwann schon«, gab er zu. »Du bist der Sohn des Lichts. Man kennt dich bei ihnen...«
»Meinst du damit die Engel?«
»Wen sonst?«
»Und du hast noch immer Kontakt zu ihnen, nicht wahr?«
»Ja, das habe ich.«
»Aber du bist kein Engel?«
Die Frage musste ihn amüsieren, denn er gab ein Geräusch von sich, das sich wie ein Lachen anhörte. Mit müde klingender Stimme sagte er: »Nein, ich bin kein Engel.«
»Und was hast du dann hier zu suchen?«
»Meine Freunde und ich haben sie gesucht. Ja, wir wollten einen Weg zu ihnen finden. Wir wollten so werden wie sie. Wir haben lange geforscht, und wir sind tief in die Geheimnisse eingedrungen, und so sind wir auf die toten Engel gestoßen.«
»Die hier existiert haben?«
»Ja, sie haben sich gefunden. Sie gründeten das Kloster. Man hat sie verbannt, und wir haben ihre Spur gefunden. Verbannt auf diese Insel, wo sie geblieben sind. Aber sie haben nie aufgegeben, auch wenn der Fluch sie traf und sie versteinerte. Aber es gibt Zeiten, da sind sie wieder normal, wenn sich ihre Welt in die der Menschen hineinschiebt.«
»Auch jetzt?«
»Ja.«
»Dann befinden wir uns also jenseits der weltlichen Grenzen?«
Der Namenlose nickte. »So ist es. Denn nur dort sind sie wieder so wie früher. Uns haben sie mitgenommen. Jeder von uns besitzt einen Engel, der auf ihn achtet und ihn gleichzeitig hält wie einen Gefangenen. Wir werden unsere Existenz nicht mehr normal beenden können. Wir sind zwar Menschen, aber wir fühlen uns nicht so. Gefangene der Ewigkeit im Kloster der toten Engel.«
Über das Gehörte musste ich erst mal nachdenken. Das allerdings später, denn jetzt war der alte Mann in seinem Sessel wichtiger. Er war eine schwache Person und hatte die Existenz, die er fühlte, sicherlich schon bereut. Auch meine Annahme von einer Parallelwelt war nicht an den Haaren herbei gezogen, aber ein Gedanke wollte mir nicht aus dem Kopf, und ich sprach ihn endlich aus.
»Gehörte auch Orry Voss zu eurer Gruppe?«
Der alte Mann schrak zusammen. Sogar seine bleichen Hände erschienen, die
Weitere Kostenlose Bücher