Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Buch.
Ich sehe auf die Uhr. Es sind mehr als zehn Minuten vergangen.
Keine Frage. Ich habe ungewöhnlich lange für zwei Seiten Taschenbuch gebraucht.
Umso verwunderlicher, dass ich kaum noch wiedergeben könnte, welcher Inhalt auf diesen beiden Seiten verzeichnet ist.
Lothar sagt immer, wenn er ein gutes Buch hat und dennoch nicht vorwärts kommt, dann gibt er dem Buch eine Chance und legt es zur Seite, bis er wieder einen klaren Kopf hat. Er findet es unfair, ein gutes Buch nur halbherzig zu lesen, weil der Kopf mit anderem beschäftigt ist.
Ich lege das Buch fort, greife zum Telefon und drücke die Kurzwahltaste 1.
»Katzenauffangstation Köberstraße, Oberkatzenfänger Lothar am Apparat?!«, meldet er sich.
Schlucken muss ich.
»Deine blöde Ex ist hier, die wissen will, was es denn bei Tante Hanne alles Leckeres zu essen geben wird«, sage ich.
»Frauke!«, antwortet er nur. Ich falle in seine Stimme hinein wie in ausgebreitete Arme im Pulli aus weichem Fleece.
Und sofort fühle ich mich nicht mehr wie unter einer Glasglocke, die den Rest der Welt ausschließt. Mit Lothar über Tante Hannes Mann Berti und die ganze verschrobene Sippe zu lachen, ihm zuzuhören, wie er seinen Chef in der Lohnerhöhungsdiskussion imitiert, das alles bringt mich auf den Teppich.
In diesen Gesprächen war ich so lange zu Hause, dass sie mir ganz automatisch ein Gefühl von Ruhe vermitteln.
So alltäglich ist unsere Unterhaltung, dass ich nicht mehr an Emma denke. Fort die Gedanken an ihr Ausbleiben, an ihre Mail. Für die Stunde des Telefonats gibt es Emma nicht in meinem Leben. Alles ist im Lot.
Erst als wir uns verabschiedet haben und ich das Lächeln auf meinem Gesicht liegen spüre wie ein Seidentuch, leicht, frisch und bunt, fällt mein Blick wieder auf den Mail-Ausdruck auf dem Tisch. Und seltsamerweise zögere ich keine Sekunde.
Ich gehe zum Computer, fahre ihn hoch und melde mich an.
Ich bin eine erwachsene Frau und habe keinen Grund, um mich vor einer Fremden zu fürchten, nur weil sie nicht zu einer Kennenlern-Verabredung gekommen ist. Ich werde mir nicht irgendwelche Dinge einreden, von wegen es könnte an mir liegen. Von wegen irgendetwas könnte mit mir doch nicht in Ordnung sein.
Ich werde ihre Worte so nehmen, wie sie dort stehen, und das tun, was ich will: sie wiedertreffen.
Als ich den Chatraum betrete, ist sie nicht dort. Aber die Suche nach ihrem Namen ergibt, dass sie angemeldet ist. Ich überlege gerade noch, ob ich ihr ein Telegramm schicken soll, da gibt mein Lautsprecher dieses metallische PLING ! von sich.
silbermondauge: da bist du wieder!
loulouzauber: ja, da bin ich wieder
Es wird anders.
Zwischen uns wird es irgendwie anders.
»Ist doch klar«, sagt Michelin dazu. »Sie war so ehrlich, wie sie nur konnte. Und du hast dich ihres Vertrauens als würdig erwiesen. Das schafft eine Basis. Das ist wie eine Ausgangssituation, die …« Sie verstummt und sieht plötzlich aus dem Fenster, als habe sie dort unten auf der Straße etwas sehr Interessantes entdeckt. Etwas, das es wert ist, nicht weiterzusprechen.
Ich weise sie nicht darauf hin, dass ihr Satz noch nicht beendet ist. Weil ich eine vage Ahnung davon habe, wie er weitergehen würde.
Katja bekommt diesen gewissen verklärten Glanz in die Augen, als sie murmelt: »Ihr muss ja unheimlich viel an dir liegen, wenn sie solche Angst vor einer Desillusionierung hat.«
Ich übergehe großzügig ihr Aufseufzen und bleibe gedanklich bei der Formulierung ›Desillusionierung‹ stehen.
Ist es tatsächlich das, was Emma fürchtet?
Hat sie Angst davor, dass der unverstellte Blick auf sie meiner Vorstellung von ihr nicht gerecht werden könnte?
Oder ängstigt sie nicht vielleicht auch der Gedanke, dass ich so ganz anders, also enttäuschend, sein könnte, als sie es sich ausmalt?
Manchmal fluche ich jetzt.
Wenn ich mich eingewählt habe und sie ist nicht da.
Wenn wir uns unterhalten und meine Finger sich sperren und nicht schnell genug die Tasten finden können.
Wenn sie auf eine Frage manchmal nicht gleich reagiert, sondern ich minutenlang hier sitze und warte. Ihr Schweigen ein leerer Bildschirm.
Dann fluche ich und schaue mich erschrocken um. Aber es ist nie jemand anderer im Raum als meine gefleckte Hündin, die sich an meine Selbstgespräche sowieso längst gewöhnt hat.
Niemand ist da.
Nur ein unbekanntes, sonderbares, verklärt gesehenes Gegenüber, das alle Macht hat. Mich durcheinander zu bringen. Mich lachen zu machen. Und
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