Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Küchentisch, der mir plötzlich total winzig vorkommt.
»Manchmal vermisse ich sogar die Möbel«, murmele ich und streiche mit der Hand über das unbehandelte Holz. Lothar und ich hatten gemeinsam einen schönen, großen Landhaustisch, an dem zehn Personen gleichzeitig Platz gefunden hätten.
Michelin lächelt, ein wenig wehmütig. »Sei froh darüber«, rät sie mir. »Sei froh, dass du nicht täglich denkst: ›Gott sei Dank bin ich da weg!‹, denn das macht Trennungen doch wirklich so schrecklich: Wenn man sie so lange rausgezögert hat, dass man sie als eine unendliche Erleichterung empfindet.«
Jackie nippt an ihrem Tee und sieht sich interessiert um.
»Aber du hast es doch auch sehr hübsch hier. Ich finds jedenfalls total gemütlich!«, tröstet sie mich dann.
»Danke.«
»Das wird bestimmt ein richtiges kleines Kuschelnest, in dem sich jede wohl fühlen wird …« Sie wird von einem lauten Räuspern Michelins unterbrochen.
»Hast du eigentlich heute Abend noch etwas von Emma gehört?«, erkundigt die sich.
»Ist das deine Internet-Bekanntschaft?«, hakt Jackie gleich nach, ohne dass ich die Chance zur Beantwortung der Frage hatte.
Ich werfe Michelin einen resignierten Blick zu.
Michelin zuckt die Achseln. »Frag mich nicht, woher sie das weiß. Ich staune selbst immer darüber, was sich so alles rumträgt in der Szene.«
»Woher wer was weiß?«, forscht Jackie misstrauisch. »Meinst du mich?«
»Ist doch auch egal«, seufze ich und winke ab. »Ich habe wirklich noch etwas von Emma gehört. Sie hatte mir mehr als ein Dutzend Mails geschickt.«
»Wow!«, kommentiert Jackie. »Das hätte ich auch mal gern!«
»Hättest du auch gern, dass diejenige, die dich auf diese Art bombardiert, dann mehrfach nicht zu Verabredungen erscheint?«, kontere ich.
Jackie macht runde Augen. Das sieht bei ihr besonders witzig aus, weil ihre Haut schokoladenbraun ist und das Weiße ihrer Augen dann nur so blitzt. »Ach? Ich wusste nur von einem geplatzten Date.«
Ich glaube, ich lege nicht besonders viel Wert darauf, mich in diese Szene zu integrieren – egal wie meine Geschichte weitergeht. Ein derartig zuverlässiger Informationsfluss erschreckt mich nämlich.
Michelin gibt einen Ton von sich, der einem Teddy-Brummen ähnelt, und Jackie presst die Lippen fest aufeinander.
»Erzähl doch mal!«, fordert Michelin mich dann auf. Und ich berichte von den Mails in meinem Kasten. Von den Gedichten und den Entschuldigungen und dieser sonderbaren Art, mich auf ein Podest zu heben, auf dem ich mich nicht nur unangebracht, sondern auch unwohl fühle.
Nachdem ich geendet habe, macht Michelin ein Gesicht, in dem ich die gleiche Ratlosigkeit lese, die ich auch verspüre.
Jackie ist nicht der Typ, bei einer solchen Geschichte stumm dabeizusitzen. Sie schnalzt mit der Zunge und fährt sich damit einmal kurz und energisch über die Lippen.
»Die macht dir doch was vor«, gibt sie dann überzeugt von sich, als sei dieser Satz das Resultat aus tagelanger Grüblerei.
»Aber wieso? Wieso macht sie das?« Ich wäre ja froh, wenn sie einen Ansatzpunkt fände, der mir Emmas Verhalten erklären könnte.
»Liegt doch auf der Hand: Sie hat eine Beziehung!«
Ich spüre, wie ich nervös mit den Augendeckeln klappere, ohne es unterdrücken zu können. O.k., ich korrigiere: Ich wäre nicht über jede Erklärung froh.
»Du meinst, sie macht sich einen Jux daraus?«
»Warum nicht? Der Bildschirm ist geduldig.« Jackie knibbelt an einem Wachstropfen herum, der von der Kerze auf die Tischplatte gefallen ist.
Michelin schüttelt den Kopf. »Glaub ich nicht! Ich denke, dass sie es schon ernst meint. Aber wenn du Recht hast und sie tatsächlich eine Beziehung hat, dann wird es ihr ja umso schwerer fallen, je ernster sie es tatsächlich meint. In einer Beziehung zu stecken und sich per E-Mail in eine fremde Frau zu verknallen, das ist schon hart. Ich meine, stellt euch das mal vor … Sollst du die Fremde wirklich kennen lernen? Was ist, wenn ihr euch dann immer noch so mögt? Wirst du dann den Mumm aufbringen, die alte Beziehung zu beenden? Willst du die alte Beziehung überhaupt beenden? Was ist, wenn nur du dich verliebst? Dann stehst du plötzlich ganz ohne Beziehung da. Aber ist das nicht vielleicht sowieso das Beste, wenn da schon derartig der Lack ab ist? Das muss doch furchtbar sein, sich all diese Fragen stellen zu müssen!«
Michelin hat immer größtes Mitleid mit ambivalenten Menschen, die sich vor Entscheidungen scheuen.
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