Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Stimme.
»Sie hat sich gestern nach der Generalprobe die Bluse beschlabbert«, wispert Michelin in meine Richtung und ruft laut zurück: »Lass sie im Wasser. Ich mach das gleich!«
»Wirklich? Das ist superlieb!« Angela kommt noch rasch in die Küche geflattert, nimmt einen Schluck aus der unberührt wirkenden Kaffeetasse, gibt Michelin einen hastigen Kuss, reißt ihre Tasche vom Stuhl und ist schon verschwunden.
»Lampenfieber«, erklärt Michelin mir mit einem Lächeln, das zwischen liebevoll und genervt die Balance hält. »Du denkst doch dran, dass morgen Abend die Premiere ist?«
»Michelin! Das sagst du mir jetzt schon seit zwei Wochen! Wie könnte ich das vergessen?« Ich stöhne auf. »Und wie könnte ich es vergessen, wo doch zur Premiere sowohl Antonie als auch Emma auftauchen werden.«
»Nein!«
»Doch! Ich war so dumm, bei beiden Werbung für das Stück zu machen.«
Michelin macht ein gequältes Gesicht. »Oh, das war nicht … besonders …«
»Nicht besonders schlau, ich weiß. Ich sagte ja gerade: ›Ich war so dumm …‹ Aber was soll ich jetzt machen?«
»Nicht hingehen?«, schlägt sie vor.
Offenbar ist meine Lage ernster, als ich sie selbst einschätze.
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Es wird mal Zeit, dass ich aufhöre, vor allem wegzulaufen«, entscheide ich fest.
Michelin sieht mich interessiert an.
»Vielleicht bin ich vor Lothar weggelaufen und hab es nur zu spät gemerkt? Und meine Scheu vor dem ganzen Lesbenkram, die kam doch auch nicht aus dem luftleeren Raum. Aber jetzt ist mal Schluss damit. Ich muss mich doch mal den Dingen stellen, die mir irgendwie Angst machen.«
»Eine Frau, ein Wort!«, meint Michelin beeindruckt und mustert mich von oben bis unten. Ich hoffe nur, sie kann nicht sehen, wie sehr mir die Düse geht. »Alle Achtung!«
»Sag das noch mal, wenn diese chaotische Zeit überstanden ist.«
»Was hättest du denn gern, wie es am Ende ausgeht?«, fragt meine Freundin und Arbeitskollegin, die es eigentlich besser wissen müsste.
»Michelin!«, rüge ich sie deswegen. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich kurz vor dem Ende von irgendetwas stehe?«
Sie reißt die Arme hoch. »Gott bewahre! Weißt du, Frederike sagt dazu immer: ›Mit einem Happy End ist doch die Geschichte nicht vorbei!‹ Ich finde, so sollten wir es auch sehen.«
Ich lache. »Schön, dass du wir sagst.«
Michelins Grinsen ist mir eine Spur zu frech.
»Was?«, frage ich deswegen.
»Ach …« Sie schmunzelt verwegen. »Ich dachte grad nur so … Vor ein paar Wochen hieß die Entscheidungsfindung noch: Mann oder Frau? Jetzt heißt sie bereits: Welche Frau? Das ist eine ziemlich rasante Entwicklung.«
Was soll ich dazu sagen? Sie hat Recht!
Ich ruf sie an.
Jetzt.
Nein. Gleich.
Ja, ich ruf sie gleich an.
Ich weiß. Ich sollte sie anrufen, so schnell es geht, und ihr von Emma erzählen. Das wäre nur fair. Emma weiß schließlich auch von ihr. Und geht das Risiko ein, wie es scheint. Vielleicht würde Antonie das nicht? Ich weiß nicht, aber irgendetwas sagt mir, dass sie es nicht tun würde.
Verrückterweise hofft etwas in mir, dass sie es nicht tun würde. Dass sie sich einfach zu schade dafür wäre. Sich nicht darauf einlassen würde, in einer Warteschlange zu hängen, während eine emotional verwirrte Ex-Hete gefühlsmäßig ziemlich zwischen den Stühlen sitzt.
Vielleicht möchte ich, dass sie mir die Entscheidung damit abnimmt, habe ich vorhin mal gedacht.
Aber immer, wenn ich den Hörer in die Hand nehme, um sie anzurufen, rast mein Puls hoch und ich bekomme einen Schweißausbruch vor Angst.
Sie darf mir die Entscheidung nicht abnehmen.
Es soll verdammt noch mal meine Entscheidung sein. Wenn ich schon meinem ehemaligen Leben den Rücken zudrehe und durch die Hölle des Coming-outs einer schubladenfreien momentan gleichgeschlechtlich empfindenden Frau zu gehen bereit bin, dann will ich wenigstens selbst die Entscheidung treffen, mit wem ich in meiner Freizeit knutsche. Und all das tue, was man in der Freizeit unter Frauen noch so tut.
Und schon wird mir wieder heiß.
Denn vielleicht ist es ja, wie Michelin heute Mittag in einem Nebensatz fallen ließ und mich damit für zwei Stunden in Panik versetzte, vielleicht ist es ja keine von ihnen beiden.
Der Gedanke aber, dass vielleicht irgendwo eine Frau auf mich lauern könnte, die diese Gefühle, die Emma und Antonie allein und zusammen in mir heraufwirbeln, noch toppen könnte … dieser Gedanke überfordert mich
Weitere Kostenlose Bücher