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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliza Graham
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schnell.
    Die Empfangsdame reichte Karel die Schlüssel und deutete auf den Lift.
    »Haben wir noch Zeit zum Duschen, bevor wir essen?« Meredith sah müde aus. Es war ein langer Tag gewesen, sie waren zeitig aufgebrochen. Sie einigten sich darauf, sich in einer Stunde zu treffen. Anstatt sich zu duschen oder auszupacken, setzte er sich in seinem komfortablen Zimmer in einen Sessel und versuchte, die Gedanken einzupferchen, die ihm während der letzten vierundzwanzig Stunden durch den Kopf geschossen waren. Er war seit August 1968 zum ersten Mal wieder hier. Nachdem er weggegangen war, hatte er seine Mutter nie wiedergesehen. Gelegentlich hatten sie sich Briefe und Weihnachtskarten über Freunde in der Schweiz geschrieben, aber diese waren immer weniger geworden. 1976 hatte er dann über einen Beamten der Botschaft in London die endgültige Nachricht bekommen, dass sie gestorben war. Auf die Nachfrage, ob er zu ihrer Beerdigung zurückkehren könne, wurde ihm erklärt, dass man ihm kein Visum erteilen werde. Damit machte man ihm klar: Du warst verwegen genug, dein Land zu verlassen. Du hast dich entschieden und dein Land und deine verwitwete Mutter verlassen. Pech für dich.
    Ihm war schon damals, als er weglief, klar gewesen, dass es so kommen würde, obwohl er gerade mal achtzehn Jahre alt war. Auch seine Mutter hatte es gewusst, als sie ihm von der Haustüre aus zum Abschied zuwinkte. Er hatte nicht gewagt, sich umzusehen, als er in die Pedale trat. Neben ihm fuhr Hana auf ihrem Fahrrad. Solange sie bei ihm war, war alles möglich. Eine Kunstschule irgendwo anders in Europa. In Paris vielleicht. Warum auch nicht. Diesen Weg hatten schon andere vor ihm eingeschlagen. Der Einmarsch in der Tschechoslowakei hatte im ganzen westlichen Europa eine Sympathiewelle für die Tschechen ausgelöst, sie konnten also mit Hilfe rechnen.
    Karel hatte einige seiner Gemälde und Skizzen zusammengerollt in einer Pappröhre in seinem Rucksack verstaut. Hana hatte ein paar der von ihr entworfenen und bedruckten Stoffe eingepackt, es waren farbenfrohe Stücke. Abgesehen davon hatten sie nicht viel bei sich: ein paar Kleidungsstücke, etwas Geld, Seife, Zahncreme. Man brauchte nicht viel, wenn man jung war und mit einem Mädchen durchbrannte, das einen nur anzusehen brauchte, und schon bekam man weiche Knie.
    »Soll ich warme Sachen mitnehmen?«, hatte sie gefragt, als sie packten, um Prag zu verlassen. »Oder werden wir bis zum Winter wieder zurück sein?«
    »Nimm sie mit«, hatte er ihr gesagt. Da war ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht, aber nur ganz flüchtig.
    Schließlich zwang er sich aufzustehen. Das heiße Wasser in der Dusche schien etwas von dem Engländer, den er verkörperte, abzuspülen. Er ertappte sich dabei, dass er auf Tschechisch dachte. Ich bin zu Hause. Fünfzehn Kilometer von hier bin ich aufgewachsen. In diesen Wäldern haben wir Pilze gesammelt, Hana und ich. Bevor die herbstliche Nacht anbrach, hatte er auf der Fahrt über die Landstraßen eine stille, bewaldete Landschaft gesehen, noch stiller, als er sie aus seiner Kindheit erinnerte. Nach dem Krieg hatte man alle Deutschen hier vertrieben und versucht, die Gegend mit Zuwanderern aus anderen Teilen der Tschechoslowakei zu bevölkern, aber die Bevölkerungszahl hat sich nie wirklich erholt. Daraufhin beschlossen die Kommunisten, dieses Gebiet so unterbevölkert, wie es war, zu belassen – als Sperrbezirk zwischen Ost und West.
    Am Morgen würden Merry und er sich auf die Suche nach dem alten Haus begeben. Karel hegte keine großen Hoffnungen.
    Dann würden sie die Waldstraße entlangfahren, auf der er mit Hana gefahren war. Die Aussicht auf diesen Teil der Reise setzte ihm ziemlich zu.

26
    Meredith
    W ie sich herausstellte, war dieses kleine Hotel in den Wäldern weitaus besser, als ich befürchtet hatte. In meiner Vorstellung hatte es eine dunkle Vertäfelung und Hirschgeweihe an den Wänden – klaustrophobisch auf typisch mitteleuropäische Weise. Ich wünschte mir Ablenkung, andere Leute, die aßen und sich unterhielten. Ich wollte nicht mit meinem Vater allein sein. Als ich mir das bewusst machte, errötete ich. Die meisten Menschen fühlten sich in der Gesellschaft meines Vaters sehr wohl. Er war sehr belesen und nachdenklich. Er war ein guter Zuhörer, genoss es aber auch zu debattieren. Und doch war mir, als die Maschine am Morgen abhob, ein wenig bange geworden. Ich hätte ihn nicht begleiten sollen, überlegte ich. Clara hätte sich irgendwann

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