Das geheime Bild
war. Vermutlich war es für ihn naheliegend gewesen, seine Flucht von heimatlichem Gebiet aus zu planen. Diese Wälder und die Grenzposten dürfte er gekannt haben.
»Bist du bei einem Grenzposten über die Grenze?«
Er ließ sich Zeit, sein Besteck auf seinem Teller zu ordnen. »Jemand meinte, die Grenzpolizisten am Übergang hier in der Nähe seien wohlwollend. Aber man musste jeden Tag damit rechnen, dass die Russen rigoros durchgreifen würden.«
Seine Stimme verriet nichts. Er hätte genauso gut das Abenteuer eines anderen beschreiben können. Nein, das war falsch ausgedrückt. Er war zwar noch keine achtzehn, aber ein Abenteuer war das nicht gewesen.
»Und haben sie dich durchgelassen?«
Er blickte von den Pfannkuchen mit Kirschen auf, die er aß. »Ja.« Das Schweigen war ausgedehnt.
Ich versuchte es noch einmal. »Haben denn viele Menschen versucht, das Land zu verlassen?«
»Ich ging allein über die Grenze«, sagte er überstürzt. »Oh, du meinst Flüchtlinge im Allgemeinen. Nicht alle hatten so große Angst wie ich. Die Kommunisten erinnerten sich noch an meinen Vater. Er war in ein Arbeitslager deportiert worden und dort umgekommen. Dazu kam noch die deutsche Abstammung meiner Mutter. Die Sowjets und alle, die sie unterstützten, hielten uns für eine Familie, die eine bourgeoise Konterrevolution schüren könnte.«
Ich musste lächeln, als ich mir meinen Vater in seinen Lobb-Schuhen und dem Crombie Coat als Anstifter einer wie auch immer gearteten Revolution vorstellte.
»Damit wären wir vielleicht noch durchgekommen, aber ich hatte Artikel für eine Studentenzeitung verfasst. Über künstlerische Integrität und Freiheit. Törichte Äußerungen eines Teenagers zur Bedeutung der Freiheit in einem sozialistischen System.« Er lachte trocken. »Etwas, was deine Sechstklässler schreiben könnten.«
»Es schien also ein guter Zeitpunkt zu sein, um das Land zu verlassen?«
Er nickte. »Gut möglich, dass die Russen nicht lange blieben. Der Westen würde aufbegehren und ihnen klarmachen, dass sie damit nicht durchkamen und wieder abziehen müssten.« Er schob seinen Teller beiseite und sah plötzlich sehr müde aus. »Aber so lief es nicht. Keiner wollte einen Krieg mit der Sowjetunion riskieren. Schließlich verfügten beide Seiten über Atomwaffen. Wenn ich erst einmal diese Grenze überschritten hatte, würde ich vermutlich nie mehr in meine Heimat zurückkehren können.«
Heimat. Er schien sich hier wirklich zu Hause zu fühlen. Auch ich war plötzlich müde nach meiner langen Entspannungsdusche und dem guten Essen in diesem Keller, der einen wie ein Schoß umschloss. Wieder war eine Familiengeschichte zum Greifen nahe, die ich eigentlich gar nicht erfahren wollte. Ich wollte ihm vorschlagen, den Rest der Geschichte auf ein andermal zu verschieben, aber ich spürte, dass sie jetzt erzählt werden musste.
»Was hast du getan, als du nach Bayern kamst?« Das hörte sich an, als wäre es weit weg, dabei war Deutschland so nah: nur fünfzehn oder zwanzig Kilometer von diesem kleinen Hotel entfernt, wäre man ein Vogel, der über Wälder und Seen fliegen konnte.
27
Karel 1968
E s mochten zwar erst wenige Tage vergangen sein, seit der Wachposten ihn den Schlagbaum hatte passieren lassen, aber sein Gesicht trug bereits das Zeichen des Flüchtlings: Hoffnung, gemischt mit Zweifel. Er hatte sich abgewandt, als im Duschgebäude sein Blick auf sein Spiegelbild fiel. Drei Tage hatte es gedauert, bis er sich darüber bewusst wurde, was passiert war.
Er hatte all sein Englisch bemüht, um den Brief zu schreiben, und dann doch seinen Pullover drangegeben, um sich die Hilfe eines Universitätsprofessors zu sichern, der ein paar Tage nach ihm über die Grenze gekommen war. Der Professor hatte sein Englisch vor dem Krieg gelernt und zugegeben, dass es etwas eingerostet war. »Ich bin nicht bewandert in dem, was die Briten Slang nennen«, sagte er. »Aber vielleicht kommt das bei Ihrem Freund in England sogar gut an.«
Wie schreibt man jemandem, den man nie kennengelernt hat? Karel ging im Geiste durch, was er von John Andrews wusste. Sein Vater hatte sich während des Kriegs mit diesem jungen britischen Kriegsgefangenen angefreundet, als man ihn zur Strafarbeit in die Nähe eines Kriegsgefangenenlagers geschickt hatte. John Andrews unterrichtete jetzt an einer Schule in Abingdon, etwa hundert Kilometer westlich von London. Papa hatte echte Zuneigung für seinen Freund empfunden und nur Gutes von ihm
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