Das geheime Bild
musste dann nicht mehr ganz so hart arbeiten.«
Auf diese Weise war Olivia also zu ihrem englisch klingenden Nachnamen gekommen.
»Aber ihr Mann ist gestorben.«
Und die Tante hatte den Job als Haushälterin bei Mrs. Smirnova angenommen.
»Irgendwie ist es ihr gelungen, ein bisschen Geld zu sparen, damit ich hierherkommen konnte.«
»Aus welchem Teil von Tschechien stammt deine Familie denn?«, erkundigte sich mein Vater und musterte sie dabei eindringlich.
»Ich weiß es nicht. Meine Tante spricht nicht darüber.« Sie zog an dem elastischen Band um ihr Handgelenk. »Sie sagt, unser Leben ist jetzt in England. Ich bin ein englisches Schulmädchen.« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. »Eine englische Internatsschülerin.« Der Stolz war nicht zu überhören. »Darauf kommt es an.«
»Das freut mich«, sagte mein Vater. »Ich bin froh, dass du dich dieser Idee so verbunden fühlst. Aber bist du nicht neugierig und möchtest etwas über deine Wurzeln erfahren?«
Sie verschränkte und löste ihre auf dem Schoß liegenden Hände. Und schüttelte den Kopf.
»Es ist interessant, sich mit dir zu unterhalten«, sagte er. »Du musst mal wieder zu uns zum Essen kommen. Vielleicht in den nächsten Ferien.«
Sie erhob sich.
Er lächelte ihr zu. »Von deinen Lehrern habe ich erfahren, dass du hart arbeitest. Sehr lobenswert.«
Sie errötete und wäre fast aus dem Zimmer gerannt, nachdem sie ein gemurmeltes Dankeschön über ihre Schulter geworfen hatte.
»Was geht hier vor sich, Papa?« Der alte Name drängte sich mir über die Lippen. Als kleines Kind hatte ich ihn so genannt. Irgendwann in meinen frühen Teenagerjahren hatte ich ihn dann durch Dad ersetzt.
»Ich kann es dir nicht sagen. Noch nicht.« Er erhob sich. »Ich muss eine Reise in die Heimat machen.«
»In die Heimat?«
»In die Republik Tschechien.« Die Teller, die ich aufeinandergestapelt hatte, klapperten in meinen Händen.
»Wie bitte?«
Er hatte nie Interesse gezeigt, dorthin zurückzukehren. »Was seiner Familie widerfahren ist, war einfach zu schrecklich«, hatte meine Mutter mir einmal anvertraut. »Kein Wunder, dass er es vergessen will.«
Aber jetzt war das Interesse an dieser dürren dreizehnjährigen Schülerin offenbar stärker.
Er wirkte plötzlich älter, als er mit geschürzten Lippen so dastand und mit seinen Fingern auf den Schreibtisch klopfte. Zweifellos plante er bereits seine Reise. »Mal sehen, ob dieses Wochenende wohl noch Flüge zu bekommen sind«, sagte er, fast zu sich selbst, als hätte er vergessen, dass ich noch neben ihm stand.
Mir fiel die Kinnlade runter. Für ihn war es derart ungewöhnlich, die Schule während des Trimesters zu verlassen. In all den Jahren, in denen er Letchford leitete, war er kein einziges Mal während der Schulzeit krank gewesen, allerdings kam es vor, dass er zu Beginn der Sommerferien zusammenbrach und wegen einer Virusinfektion für zwei oder drei Tage das Bett hüten musste. Dieses Wochenende gehörte zwar noch zu den Herbstferien, aber dennoch.
»Du möchtest morgen fliegen?« Meine Stimme ließ keinen Zweifel an meiner Skepsis.
Er lächelte. »Ich brauche zunächst einen Flug.«
»Was ist denn los, Dad?«
»Das kann ich dir erst sagen, wenn ich zu Hause war.«
Wieder dieses Wort.
Du bist verrückt , hätte ich ihm am liebsten gesagt. Erst kriegst du dich vor Aufregung über eine Puppe nicht mehr ein, und jetzt zieht es dich plötzlich an einen Ort, den du vor vielen Jahren nur allzu gern verlassen hast.
Vielleicht standen mir meine Gedanken im Gesicht geschrieben. Er lächelte wieder. »Ich glaube nicht, dass du befürchten musst, ich leide an vorzeitiger Senilität, meine Liebe. Noch nicht.«
»Die Schule …«
»Wird an diesem Wochenende bestens ohne mich zurechtkommen. Deine Mutter hat mir immer gesagt, ich solle öfter mal weggehen.«
Ich könnte ihn begleiten. Aber angenommen, ich tat es, und es passierte etwas mit Hugh? Ein Rückfall bei seiner Behandlung? Eine weitere Infektion. Das soll schon vorgekommen sein, auch noch so lange nach einer Amputation. »Ich bringe dich zum Flughafen«, sagte ich. »Lass uns mal im Internet nachsehen, welche Flüge noch zur Verfügung stehen.« Doch dann bekam ich plötzlich Gewissensbisse. Er wollte nach so langer Zeit nach Hause fahren, als Witwer. »Ich könnte mitkommen«, schlug ich vor und musste dabei blinzeln. »Wenn ich jemanden finde, der auf die Schnelle bereit ist, sich um den Hund zu kümmern.«
Auch Simon blinzelte,
Weitere Kostenlose Bücher