Das geheime Kind
dem einen den Ellbogen ins Gesicht zu rammen und den anderen mit Bissen und Tritten und viel Gebrüll zu vertreiben, hatte sie große Überwindung gekostet. Schlafende Gewalt in sich zu entdecken und explosionsartig freizusetzen, das stellte einen Schritt dar, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Die beiden Jungs hatten ihn ihr aufgezwungen, und Photini hasste das, schon immer.
Damals hatte sie sich schmutzig gefühlt, beraubt und betrogen. Hatte sie Stärke oder Schwäche gezeigt? Manchmal, in den dunkelsten Stunden der Nacht, fragte sie sich, was anders gelaufen wäre, wenn sie die Jungs hätte gewähren lassen. Die beiden waren auf der Party noch sehr nett gewesen, hatten passabel ausgesehen, Komplimente gemacht. Was, wenn sie sich für einen entschieden hätte und mitgegangen wäre? Schlimmer als bei ihrem überstürzten, unbequemen ersten Mal im Zeltlager des Bonner Jugendrings hätte es rückblickend wohl kaum werden können.
»Alles in Ordnung?«, sorgte sich Raupach. »Du siehst aus, als wolltest du gleich jemanden auffressen.«
»Fürs Erste ist mir der Appetit vergangen.« Photini trat neben Jakub und betrachtete seine begonnene Skizze. Das Leben – ein hastig gezogener Strich. »Mach weiter.«
»Corinne zog vor zwei Jahren aus, das ist gesichert.« Der Psychologe versah die Zeitleiste mit einer Markierung. »Von Milan wissen wir, und diesen Teil seiner Aussage nehme ich ihm ab, dass sie in Bezug auf Sex schüchtern war. Parallel dazu stellte sie Nacktfotos von sich ins Netz – erster Hinweis auf Dissoziation. Das war im Karneval.« Er fügte einen Markierungsstrich hinzu. »Vor einem halben Jahr traf Corinne dann die Erkenntnis der Schwangerschaft. Ein schwerer Schock, die Dissoziation vertiefte sich. Sie gab Milan den Laufpass und brach ihre Lehre ab.« Jakub machte ein weiteres Kreuz auf der Linie. »Ein Kind zu erwarten, musste für sie der reine Horror gewesen sein. Als Opfer einer Vergewaltigung hatte sie bestimmt Angst, ungewollt schwanger zu werden.«
»Warum hat sie nicht abgetrieben?«, wollte Photini wissen.
»Falls Milan tatsächlich der Vater ist und sie ihn geliebt hat, befand sie sich in einem Dilemma. Das konnte sie alleine nicht lösen, deswegen hat sie vielleicht Rat bei Wintrich gesucht. Vergesst nicht, im Grunde ihres Herzens mochte Corinne Babys. Schließlich war sie Kinderkrankenpflegerin.«
»Darin war sie sogar gut.«
»Das hätte sie jetzt unter Beweis stellen können, an ihrem eigenen Sohn.« Jakub machte das vierte Kreuz auf seiner Zeitleiste. »Das geheime Kind, in Hausgeburt, ohne ihre Hebammenmutter ins Vertrauen zu ziehen. Ich kann mir das nur so erklären, dass Vera Bahling von dem früheren Missbrauch wusste – oder wegsah.«
»Jedenfalls war ihr Verhältnis zu Corinne in irgendeiner Form belastet. Kann tausend Gründe haben. Alleinerziehende Mutter, eigenwillige Tochter.« Raupach stand auf. Der Anblick dieser Nacktfotos stieß ihn mehr ab als Bilder einer Leiche, jetzt, da er wusste, aus welchen Beweggründen sie vermutlich entstanden waren.
»Corinne hat das Kind erst vor ungefähr zwei Wochen bekommen«, fuhr Jakub fort. »Bei ihrer Vorgeschichte und ihrer wackligen psychischen Verfassung verfiel sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine postnatale Depression. Und das ist die Hölle, schlimmer als ein paar Heultage nach der Geburt wegen der hormonellen Umstellung, Babyblues, so etwas gibt sich wieder. Eine PND dagegen, die zieht der jungen Mutter buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Dort ist dann nichts mehr, nur ein großes schwarzes Loch, mit scharfen Rändern.«
»Beschreib das bitte genauer«, sagte Photini. »Was ging in Corinne vor, nachdem sie zu Hause ihr Kind gekriegt hat?«
»Bei manchen Frauen dauert es eine Weile, bis die PND einsetzt, manchmal Wochen oder Monate. Corinne, allein in ihrer Wohnung … Da war es wohl schon nach ein paar Tagen so weit.«
»Wie läuft es ab?«
Jakub hatte so seine eigenen Erfahrungen mit dem Babyblues. Seine Frau Franziska war nach der Geburt ihrer ersten Tochter völlig am Ende gewesen. Leer.
»Stellen wir uns Corinne total verwirrt vor, desorientiert. Sie wacht auf, vielleicht weil das Kind Hunger hat und schreit. Erst mal weiß sie gar nicht, wo sie sich befindet. Bei ihrer Familie in Weidenpesch? Nein, kann nicht sein. Was ist los mit mir, fragt sie sich und fühlt sich schon mies und müde und wie zerschlagen, obwohl sie gerade noch geschlafen hat. Sie kommt kaum hoch, möchte am liebsten
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