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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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liegen bleiben und nie mehr aufstehen. Pfeift auf die Welt und das Licht, das durchs Fenster fällt. Dann das Baby, ihr Sohn. Sie versucht ihm die Brust zu geben, aber er trinkt nicht richtig, oder es kneift. Was macht sie falsch?«
    »Hört sich relativ … normal an«, bemerkte Photini.
    »Wie soll ich euch schwere Verstimmungen beschreiben? Hassphantasien, Autoaggression, das steigert sich, wird böse, blutig, jedenfalls in Gedanken. In den wenigen klaren Momenten zweifelt sie an sich selbst: Bin ich die Frau, die sich den Tod des kleinen Kerlchens in den brutalsten Formen ausmalt? Sie ertastet weiche, nachgiebige Stellen, alles wirkt zerbrechlich. Und in der Wohnung gibt es Heizkörper, Waschbecken. Sie stößt ja selber dagegen, unkoordiniert, wenn sie Schwindelgefühle überkommen. Dann möchte sie das runzelige Ding einfach an den Füßen packen –«
    »Ist ja gut«, wehrte Raupach ab. »Weniger drastisch, Jakub.«
    »Corinne schwankt wie ein Rohr im Wind, wenn dir so ein Vergleich besser gefällt. Manchmal knickt sie einfach um. Vermutlich hat Wintrich sie mit Antidepressiva versorgt. Da ist aber dieser Säugling, der sie braucht, permanent, er zehrt an ihrer Lebenskraft, an ihrem ausgelaugten Körper. Ihr wird klar, so wird das jahrelang gehen, kein Ende in Sicht. Kann sie das bewältigen? Dann kommen die Selbstvorwürfe. Warum bin ich schwanger geworden? Was soll jetzt aus mir werden, mit einer abgebrochenen Lehre und dem Kind am Bein? Welcher Mann will mich noch?«
    Jakub hielt kurz inne. »So verquer es klingt, für die Opfer einer Vergewaltigung ist das eine essenzielle Frage. Bin ich noch sexuell attraktiv? Oder irgendwie beschädigt, verdorben, Ausschussware? Der schlaffe Bauch nach der Niederkunft kommt noch hinzu, verstärkt das Gefühl, unansehnlich zu sein, abstoßend. Wenn die Depression ganz übel verlief, könnte Corinne das Baby sogar einem früheren Missbrauch zugeschrieben haben.«
    »Weiter.«
    »Eine Wochenbettpsychose macht einen fix und fertig. Corinne schrumpft zu einem steinharten Knoten zusammen und weiß nicht mehr, wer sie davor gewesen ist. Das Kind nervt, immer mehr. Gehört es überhaupt ihr oder einer Fremden? Wie kommt es hierher, neben sie, in ihr Bett?«
    »Und dann hat sie es einfach tot gemacht?«, fragte Photini.
    »Eine Decke, ein Kissen, was eben zur Hand ist. Es lässt sich logisch nicht erklären. Die Sicherungen brennen durch. Es kommt über uns und zeigt, wie hässlich wir sein können. Kindsmord ist eine Warnung an die Menschheit.«
    »Das heißt, Corinne war wahrscheinlich nicht zurechnungsfähig zum Zeitpunkt der Tat«, sagte Raupach. »Ist das zu hoffen?«
    »Du fragst wie ein Anwalt.«
    »Ich überlege mir, was ich Plavotic erzähle. Dem mutmaßlichen Vater des Kindes. Der bereit ist, für Corinne in den Knast zu gehen.«
    Die Polizisten schwiegen. An diesem Fall haftete das Unglück wie eine aggressive Entzündung. Bei jeder Lage Verbandsmull, die sie lösten, kamen neue Wunden zum Vorschein.
    »Gab es einen unmittelbaren Auslöser für den Kindsmord?«, fragte Photini schließlich. »PND reicht mir nicht.«
    »Warum?«
    »Ich glaube, Corinne ist stärker, als ihr denkt. Diese Fotos von sich zu machen, da gehört einiges an Überwindung dazu, Dissoziation hin oder her. Das ist ein Schritt nach vorn, raus aus der Passivität eines hilflosen Opfers, der Mut der Verzweiflung. Davon soll nach der Geburt nichts mehr übrig geblieben sein? Außerdem war Wintrich ja auch noch da.«
    »Den hat sie vielleicht erst angerufen, nachdem sie das Kind getötet hat«, gab Jakub zu bedenken. »Aus diesem Grund trafen sie sich im Nordpark. Sie legte die Leiche in die Sporttasche und nahm sie mit zu den Kleingärten. Wintrich sah keine andere Möglichkeit, als die Tasche in den Beeten zu vergraben.«
    »Doch jemand hatte etwas dagegen«, spann Photini das Szenario weiter. »Er brachte Wintrich um und nahm die Tasche an sich. Corinne blieb konsterniert zurück. Irgendwann rang sie sich dazu durch, ihren alten Freund Milan zu verständigen, damit er sie aus diesem Alptraum herausholte und heimbrachte.«
    »Und Milan hielt sie für die Täterin. Ohne je etwas von dem Kind erfahren zu haben. Die Tasche war zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg zum Niederländer Ufer.« Raupach zündete sich eine von Jakubs Zigaretten an. Die Tatnacht bekam endlich Kontur. Sie hatten eine große Lücke des Falles geschlossen, da war er sich sicher. Corinne war der Schlüssel. Jakub musste mit ihr

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