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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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Sie möchte das Gefühl totaler Kontrolle immer wieder reproduzieren und findet kein Ende.«
    »Der letzte Chat-Eintrag stammt von gestern«, sagte Photini. »Meinst du, dass sie auch während der Schwangerschaft auf der Website aktiv war?«
    »Ich denke nicht. Wenn es stimmt, dass Wintrich sie finanziell unterstützt hat, brauchte sie das Geld nicht so dringend – obwohl es ihr eine gewisse Freiheit verschafft hat, das mag bei dem Ganzen auch eine Rolle spielen. Aber sich als Schwangere nackt zu zeigen, da gehört schon einiges an Selbstverleugnung dazu, willentliche Prostitution, das passt nicht.«
    »Gehen wir davon aus, dass Corinne an Dissoziation litt.« Raupach übernahm den Part des Advocatus Diaboli. »Ist ihr dann nicht alles zuzutrauen?«
    »Der Reihe nach«, bremste Jakub. »Ich rekonstruiere mal den Krankheitsverlauf, von seinen Anfängen, über die wir nur spekulieren können, bis zu Corinnes Selbstmordversuch. Bei einer dissoziativen Störung sind bestimmte mentale Funktionen, die auf die Persönlichkeit integrierend wirken, vom Bewusstsein abgespalten: das Gedächtnis, die Wahrnehmung der Umwelt, unter Umständen sogar die Identität. Ursache oder Auslöser sind schwere psychische Belastungen – Missbrauch, Vergewaltigung, Folter.«
    »Die Frage ist, von wem Corinne missbraucht wurde«, sagte Raupach. »Und wann das geschah.«
    Jakub nahm ein Blatt Papier und zog einen langen Strich, der eine Zeitleiste darstellen sollte. »Alles deutet auf Wintrich hin.«
    »Tote können sich nicht wehren. Plavotic betrachtete Wintrich als Konkurrenten, und umgekehrt war das offenbar genauso. Aber vielleicht wollte Wintrich Corinne nur helfen, das wäre doch möglich.«
    »Dass sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hat?«, zweifelte Photini. »Verschlossen und misstrauisch, wie sie war?«
    »Zumindest nach und nach.« Raupach verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wintrich verstand es, auf die Menschen einzugehen, sie für sich zu gewinnen, trotz seiner Trinkerei. Das hat mir Frau Havemann heute Morgen bestätigt. Anscheinend wollte er den Familienfrieden wiederherstellen und Corinne dazu bewegen, sich mit ihrer Mutter auszusöhnen.«
    »Wintrich als eine Art neutraler Schlichter.« Photini dachte darüber nach. »Dem Corinne unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles erzählte, was sie bedrückte.«
    »Bei jedem Gespräch bekam er ein bisschen mehr aus ihr heraus. Allmählich ging ihm das wahre Ausmaß der Geschichte auf. Wovon er Vera allerdings nichts verraten durfte.«
    »Ein Ersatzvater in der Zwickmühle.«
    »Im Konflikt seiner Loyalitäten. Und Plavotic hat das falsch aufgefasst. Er und Wintrich haben sich gegenseitig verdächtigt.«
    »In Wirklichkeit hat also ein Dritter Corinnes Leben versaut«, folgerte Photini. »Klaus Bahling?«
    »Heide und Höttges sind gerade auf dem Weg zu ihm«, sagte Raupach. »Es kann natürlich auch jemand gewesen sein, den wir gar nicht kennen, oder eine ganze Gruppe. Teenagern passiert eine Menge Mist, schon auf dem Schulweg, oder abends, nach der Disko.«
    »Eine diesbezügliche Anzeige wurde nie erstattet, Niesken hat das vorhin für mich überprüft. Das Mädchen ist nicht in der Opferkartei.«
    »Hätte mich auch gewundert, wenn sie aktenkundig gewesen wäre. Sie hat das mit sich selbst abgemacht, genauso wie ihre Schwangerschaft.« Jakub holte ein weiteres Foto auf den Laptopbildschirm. Corinne mit weit ausgebreiteten Armen, Finger in der Sofalehne verkrallt, Füße an der Tischkante abgestützt, Schenkel fest geschlossen. Zwischen den Beinen sah man trotzdem alles.
    Es war, als schaute das Mädchen den Polizisten bei der Recherche zu, den Erklärungsversuchen am lebenden Objekt. Bemüht euch nicht, schienen ihre Augen zu sagen. Es gibt keine schlüssigen Antworten auf das, was mein Körper hier macht. Seht euch satt. Härchen, Poren, Hautfalten. Nichts soll euch entgehen, alles unauslöschlich sichtbar sein. Kein Wunsch verwehrt, jede Vorstellung erfüllt, jede Deutung erlaubt.
     
    PHOTINI KONNTE SICH jetzt besser in Corinne einfühlen. Als sie selbst in die Pubertät gekommen war, hatte sie Belästigungen und Zudringlichkeiten unterschätzt. Mit vierzehn war sie nach einer Party von zwei älteren Jungs übel betatscht worden, die hatten ihre Finger überall gehabt.
    Die Bilder auf dem Laptop brachten all das zurück. Den heißen Atem im Ohr, das Zerren am Arm, die plumpen Umarmungen. Ihrem Vater hatte sie nie etwas davon erzählt, keiner wusste es.
    Der Entschluss,

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