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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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keine Enkel. Es war ein alter Schmerz, an den sie sich nie gewöhnte.
    »Nachdem er den lästigen Hausrat abgestoßen hatte, dauerte es ein paar Monate, dann brachte er mir wieder was. Dieses Mal hatte er seine Schätze dabei, Schallplatten, Familiensilber und solche Dinge. Das machen die Leute nur, wenn sie dringend Geld brauchen. Ich kenne diesen Ablauf. Dann komme ich mir immer wie der letzte Kapitalist vor, der aus der Not der Menschen Profit schlägt. Andererseits, meine Preise sind fair, da kann sich niemand beschweren.«
    »Wann war das?«, fragte Raupach.
    »Im Mai, direkt nach dem Vatertag. Ich weiß noch, dass der Laden ziemlich voll war, das ist oft so nach einem Feiertag. Dann hatten die Leute Zeit, in ihren alten Sachen zu kramen.«
    Photini konnte das gut nachvollziehen. Sie schmiss mehr Sachen weg, als sie sich kaufte.
    »Hatte sich bei Otto Wintrich irgendetwas geändert?«, hakte Raupach nach. »Streit mit seiner Freundin?«
    »Nicht dass ich wüsste. Außer den üblichen Differenzen, die es immer mal gibt.« Neben einer eisenbeschlagenen Truhe blieb die Havemann stehen. »Vor zwei Wochen stattete Otto mir wieder einen Besuch ab. Er sah mitgenommen aus. Draußen regnete es in Strömen, bei Nordwind. Die Leute kamen nur in den Laden, um sich aufzuwärmen. Nach Weidenpesch, wo Otto wohnte, ist es ein ganz schönes Stück zu laufen.«
    Sie klappte den Deckel der Truhe hoch, bückte sich und kramte eine Weile darin. Schließlich brachte sie ein Stofftier zum Vorschein. »Das hat er eingetauscht.«
    Ein Eisbär in der Größe eines Kleinkindes. Photini zog Schutzhandschuhe über und nahm ihn vorsichtig entgegen.
    Das Fell, angegraut und fleckig, war ursprünglich weiß, wie die Wurzeln der Kunstfasern verrieten. Oft berührt, gedrückt, durch die Gegend geschleift.
    Die Kommissarin betastete den Bauch des Bären und untersuchte ihn auf eingenähte Fremdkörper. Da sie Drogen am Tatort gefunden hatten, war alles in Betracht zu ziehen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nichts drin.«
    »Otto hat den Bären gegen ein Schachspiel getauscht. Er wollte ihn unbedingt loswerden.« Die Havemann machte eine Pause. »Er meinte, das Ding brächte Unglück.«
    »Wie kam er denn darauf?«, fragte Raupach.
    »Hat er nicht gesagt. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass er seinen Job verloren hat. Aber das ist ja schon länger her.«
    »Was war er von Beruf?«
    »Irgendwas mit Arzneimitteln. Er klapperte die Ärzte ab und brachte Pillen unter die Leute.«
    »Pharmareferent?«
    »So sagt man wohl.«
    »Eine krisensichere Branche.«
    »Wenn man seinem Chef nicht einen Zahn ausschlägt.« Die Havemann deutete ein Lächeln an. »Das hat Otto nämlich getan. Zu mir war er immer lammfromm. Konnte keiner Fliege was zuleide tun, benahm sich sehr zuvorkommend, auch den anderen Kunden gegenüber.« Sie atmete schwer aus. »Das war nicht immer so. Früher hatte er sein Alkoholproblem nicht im Griff. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Die Geschichte von seiner Entlassung hat er mir hundertmal erzählt. Angeblich hat ihn sein Chef provoziert. Die Bestellungen gingen zurück, weil Otto den Kunden reinen Wein einschenkte. Er stellte die Wirksamkeit bestimmer Arzneien in Frage.«
    »Hört sich nach einem Pharmaskandal an«, meinte Photini. Sie schrieb alles mit.
    »Ach, so schlimm war das gar nicht. Er empfahl den Ärzten nur manchmal andere Hersteller, als er selber vertrat. Das sickerte wohl zu seinem Vorgesetzten durch. Otto hat mir das haarklein auseinandergesetzt, Mittel gegen Heuschnupfen, Asthma, Bluthochdruck, Zucker, die großen Volkskrankheiten, an denen sich am meisten verdienen lässt. Da gibt es riesige Unterschiede im Preis und in der Wirkung. Otto hatte es satt, Werbung für Placebos zu machen, wie er sich ausdrückte, und das hat er seinem Chef auch so gesagt. Ein Wort gab das andere, die Sache wurde persönlich, und dann schlug er zu. Natürlich ist das ein Kündigungsgrund, er wurde sofort gefeuert. Kurz davor war er zu seiner Freundin gezogen.«
    »Glauben Sie, diese Entlassung hat etwas mit dem Mord zu tun?«, fragte Raupach.
    »Keine Ahnung. Den Eisbären gab er mir jedenfalls erst vor vierzehn Tagen.« Die Havemann hielt inne. »Fünfzehn, um genau zu sein. Irgendetwas beschäftigte ihn, ließ ihn nicht schlafen. Nicht, dass er arbeitslos war, etwas, das tiefer ging. Sie hätten seine Augen sehen sollen. Die waren erloschen, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. Ganz anders

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