Das geheime Kind
eigenhändig die Tür zu. Ein Aufkleber prangte darauf: »Danger – keep out!«
»Sie überrascht mich immer wieder«, sagte Raupach. Der Junge wirkte zwar harmlos, dennoch musste man auf ihn achtgeben. Vielleicht war ihm sogar ein Hinweis zu entlocken. Photini würde ihn schon richtig anpacken.
»Tee?«, fragte Vera Bahling. »Ich brauche jetzt einen.«
»Gern. Darf ich mich setzen?«
»Wo Sie wollen.«
Er nahm am Esstisch Platz, ließ der Frau Zeit, die Todesnachricht zu verarbeiten. Sie war Hebamme, 42 Jahre alt, nicht fest angestellt, sondern Freiberuflerin, pendelte zwischen mehreren Krankenhäusern und Hausgeburten hin und her. Ein Job, der vermutlich auf Kosten der eigenen Familie ging. Ihr Ex-Mann hieß Klaus Bahling und arbeitete als Restaurantchef im Hotel »Brabanter Hof«. Die neunzehnjährige Tochter Corinne machte eine Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin und war bereits ausgezogen, sie wohnte in Köln-Mülheim. Wintrich war 45 gewesen. Dies alles hatte Heide durchgegeben, bevor Raupach und Photini das Mietshaus betreten hatten. Die beiden Söhne, Thorben und Nicolas, lebten noch bei der Mutter. Thorben Bahling, mit 22 der Älteste, war Rettungsassistent beim Roten Kreuz.
Raupachs Blick fiel auf das Schachbrett.
Die Figuren waren seltsam angeordnet. Alle Bauern fehlten außer einem weißen in der Mitte des Spielfelds. Der Rest, König, Königin und so weiter, stand aufgereiht am Rand, in Grundposition. Bis auf den weißen Springer, der fehlte ebenfalls.
Nicolas schien nicht nach den Regeln zu spielen, möglicherweise beherrschte er sie gar nicht. Er machte wirklich einen sonderbaren Eindruck. Bestimmt war es nicht leicht, den Jungen großzuziehen.
Das Wohnzimmer war im Stil der späten achtziger Jahre eingerichtet, Kiefernholz, Bezüge mit modernistischen Mustern, eine schwarze Regalwand, Rauhfasertapete. Überall Gebrauchsspuren, abgestoßene Stellen, ausgebleichte Flecken auf dem Teppichboden. Die Tischplatte war übersät mit Kerben und Rillen. Vermutlich stammten die Möbel noch aus Vera Bahlings Ehe, gekauft vor ungefähr 15 Jahren. Aber man konnte nicht behaupten, dass die Wohnung vernachlässigt aussah, alles wirkte aufgeräumt, keine Staubschicht auf dem Fernsehgerät, keine herumliegenden Zeitschriften oder Rechnungen. In einer Vase Trockenblumen.
Raupach stand auf und betrachtete die Fotosammlung in der Regalwand. Die Bilder waren älteren Datums, zeigten eine intakte Familie inklusive Ex-Mann und einem Großelternpaar. Vor allem die drei Kinder waren in allerlei Posen zu sehen, einzeln oder mit Freunden, beim Urlaub in den Bergen, bei Geburtstagsfeiern.
Nicolas lächelte nie, die beiden anderen, Thorben und Corinne, umso mehr. Otto Wintrich fehlte. Die Fotos waren längst nicht auf dem aktuellen Stand, als habe derjenige, der sie einst aufgestellt hatte, das Interesse daran verloren oder es aufgegeben, sich darum zu kümmern. Veränderungen im Leben machten viele Menschen verstockt, dachte Raupach. Was einmal gut gewesen war, sollte zumindest auf dem Regal so bleiben.
Dann hörte er es, ein unterdrücktes Schluchzen, aus der Küche.
Vera lehnte am Herd und weinte stumm, die Hände vor dem Gesicht. Auf der Arbeitsfläche neben ihr standen eine Teedose und eine Kanne. Der Heißwasserbereiter dampfte.
Raupach schaltete das Gerät aus. »Tut mir leid, dass wir Sie überrumpelt haben. Wir bringen selten gute Nachrichten.«
»Ich fass es einfach nicht.« Leise, gepresst.
»Gibt es Nachbarn oder Bekannte, die Ihnen helfen können?«
Sie ignorierte die Frage und wischte die Tränen mit dem Handrücken ab. »Kriminalpolizei«, sagte sie nachdenklich. »Zuerst hab ich gedacht, Otto wäre in einer Ausnüchterungszelle gelandet. Oder dass er sich auf der Straße mit jemandem angelegt hat. Aber Mord?«
Er teilte ihr behutsam mit, unter welchen Umständen sie Wintrich am Nordpark gefunden hatten. Und dass ihre Aussage jetzt sehr wichtig sei.
Mit ungelenken Bewegungen goss Vera Bahling den Tee auf. »Was wollen Sie wissen?«, fragte sie und wirkte dabei, als sei es ihr peinlich, ihre Gefühle so offen zu zeigen.
»Wann haben Sie Herrn Wintrich zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend. Wir hatten Streit, nichts Ernstes, nur das Übliche. Weil Otto zu viel trinkt.« Sie lachte hohl. »Scheint uns zur Gewohnheit geworden zu sein. Zu streiten.«
»Seit wann sind Sie ein Paar?«
»Also, von Klaus, meinem Ex, habe ich mich vor zehn Jahren getrennt. Kurz darauf lernte ich Otto kennen, aber das
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