Das geheime Kind
ausgeleiert. An den Armen hatten sich kleine Kügelchen gebildet. Die konnte man zählen und abzupfen, wenn einem danach war.
Die Fremden kamen ins Wohnzimmer. »Hallo«, sagten sie kurz hintereinander. Er zog die Beine an.
Mama achtete darauf, dass die Ankömmlinge ausreichend Abstand zu ihm hielten. »Herr Raupach und Fräulein Dirou sind von der Polizei, Nicolas, sie sind Kommissare, das kennst du vom Fernsehen. Sie werden ein paar Fragen stellen und sich bei uns umsehen.«
»Überall?«
»Wenn es sein muss.«
»Warum?«
Vera Bahling zögerte einen Moment, umklammerte die Stuhllehne. »Sie möchten sich nach Otto erkundigen.«
»Hat er was angestellt?«
»Nein.« Sie fuhr sich durch die Haare und klemmte eine Strähne hinters Ohr. Das tat sie, wenn sie angestrengt nachdachte. »Diesmal nicht.«
»Wo ist er denn?«, fragte Nicolas.
»Weg! Er ist … für eine Weile weg.« Sie biss sich auf die Lippen. »Keine Ahnung, wann er wiederkommt.«
»Bleiben die Polizisten lange?«
»Nicht länger als nötig.«
Die junge Kommissarin machte einen Schritt nach vorn. »Wie alt bist du?«
Er zog die Augenbrauen zusammen.
»Fünfzehn«, sagte Vera Bahling. »Er besucht die Förderschule. Mit etwas Glück schafft er nächstes Jahr seinen Abschluss.«
Glück hat damit eigentlich nichts zu tun, dachte Nicolas und schaute auf das Schachbrett.
»Ich heiße Photini.« Die Kommissarin kam noch ein Stück näher und beugte sich vor. Sie trug ein schwarzes Lederjackett, darunter ein ausgeschnittenes weißes T-Shirt. Nichts Aufreizendes, doch für die Phantasie eines pubertierenden Jungen reichte es allemal. »Mein Partner hier nennt mich Fofó, aber nur, wenn er gut gelaunt ist.«
Nicolas riskierte einen Blick. Eine Aushilfe in der Schule hatte im Sommer mal ein sehr weites Trägerhemd getragen. Von der Seite waren ihre Brüste zu sehen gewesen, kleine spitze Tütchen, die bei jeder Bewegung in andere Richtungen zeigten. Das hatte im Pausenhof eine Schlägerei verursacht.
»Zeigst du mir dein Zimmer?«, fügte Photini hinzu.
Er duckte sich. Meinte die das ernst?
»Sie dürfen ihn nicht direkt ansprechen«, sagte Vera Bahling.
»Meine Kollegin weiß, was sie tut«, erwiderte Raupach. »Keine Angst, wir nehmen Rücksicht.«
Vera Bahling hatte vorhin an der Tür also nicht übertrieben, dachte Photini. Sie riss einen Zettel aus ihrem Notizbuch. »Schließen wir einen Vertrag«, sagte sie und vermied es, den Jungen dabei anzusehen. »Wenn Nicolas einverstanden ist.«
Keine Reaktion. Sie nahm es als Zustimmung.
»Geh bitte in dein Zimmer«, schrieb sie. »Ich folge dir. Wir bleiben mindestens zwei Meter auseinander. Du brauchst nicht zu reden. Ich stelle mich neben die Tür und gehe sofort raus, wenn du willst. Es ist nur ein Besuch. Danach bin ich wieder weg.« Darunter zog sie zwei Linien und unterschrieb auf einer.
Photini reichte Vera Bahling den Zettel. Die Frau las ihn, nickte unbestimmt und legte ihn vor Nicolas auf den Tisch.
Klare Anweisungen. Die beste Methode, sich mit Autisten zu verständigen. Photini hatte einen Neffen in Griechenland, Dimitri, der litt unter dem Asperger-Syndrom, einer abgemilderten Form von Autismus. Irgendein Schalter in seinem Gehirn funktionierte nicht, hatte keinen Kontakt. Dimitri war zum Beispiel nicht in der Lage, den Gesichtsausdruck und die Gesten anderer Menschen zu deuten. Er lachte, wo Ernst oder Trauer angebracht war, er schrie um Hilfe, wenn man ihm ein Eis anbot. Auf die Frage, was er mal werden wolle, konnte er einem ellenlange Vorträge über Kybernetik halten.
Auch Nicolas hatte Schwierigkeiten, seine Umwelt an sich heranzulassen. Seine Krankheit sei nicht besonders stark ausgeprägt, beteuerte seine Mutter. In der Schule komme er ganz gut mit, dort gingen die Lehrkräfte auf ihn ein. Wenn man ihn nicht kannte, meine man jedoch, einen zurückgebliebenen Trotzkopf vor sich zu haben.
Nicolas ballte die Hände zu Fäusten. Er konnte es nicht leiden, wenn seine Mutter über ihn sprach, als sei er nicht da.
»Nur zeigen!« Er und die Polizistin zusammen in einem Zimmer? Langsam fand er Gefallen an dem Gedanken.
»Sicher. Du bist der Boss.«
Vielleicht nahm sie ihm Fingerabdrücke ab? Oder eine Speichelprobe? So lief das doch im Fernsehen. Die machten Tests, mit denen sie Verbrecher aufspürten.
Er war gespannt, wie er dabei abschnitt.
»NICHT ZU FASSEN.« Vera Bahling beobachtete, wie die Kommissarin mit ihrem Sohn in dessen Zimmer verschwand. Nicolas machte
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