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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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hockte, war nur eine Turmfrisur von undefinierbarer Farbe zu sehen, irgendetwas zwischen lila und kupferblond.
    »Haben Sie ein Glas Wasser?«, fragte Raupach.
    Apollonia Havemann schaute hoch. Über dem Rand ihrer Lesebrille bestätigte sich der Eindruck, den sie bereits vom Gang dieses Mannes gewonnen hatte, schleppend, aber zielgerichtet: ein Bulle.
    Sie blickte durchs Schaufenster nach draußen. Im Schlaf presste Kotissek seine Backe gegen die Wagenfensterscheibe.
    »Was haben Sie mit dem Tütentünn gemacht?«
    »Das hat er ganz von allein geschafft. Herr Kotissek leidet unter einem Durst, der sich nicht stillen lässt.«
    Sie hantierte hinter der Verkaufstheke und förderte eine Art Pokal zutage. Goss Wasser aus einer Plastikflasche hinein und gab eine Brausetablette dazu. Es schäumte wie in einer Kläranlage. »Der braucht ein Alka-Seltzer.«
    Raupach wollte sich vorstellen, aber die Havemann wehrte ab. »Keine Nachnamen, das ist hier Hausregel. Ich halte nichts von diesem bourgeoisen Getue.«
    »Na dann: Klemens.«
    »Polly. Setzen Sie sich.« Sie wies auf einen ausladenden Sessel, der direkt am Schaufenster stand. Der dunkelbraune Kordbezug war abgenutzt, an einigen Stellen flockte der Schaumstoff heraus. Um die Armlehnen zu schonen, waren vorn Spitzendeckchen aufgenäht.
    Raupach nahm Platz.
    Auf dem Bullenstuhl. Das signalisierte allen Eingeweihten sofort: Achtung, Polizei! Die Kunden der »Zweiten Hand« hatten Anspruch auf einen guten Service. Dazu gehörte, vor unangenehmen Begegnungen gewarnt zu werden.
    »Sternzeichen?«
    »Wie?« Raupach fand den Sessel überraschend bequem.
    »Sprech ich chinesisch?«
    »Löwe.« Er pflückte einen Schaumstoffkrümel von seinem abgenutzten Jackettärmel.
    Die Havemann musterte ihn eine Weile. »Letzte Dekade, stimmt’s?«
    »22. August.«
    »Fast Jungfrau.« Die Havemann schnaubte. »Wahrscheinlich sind Sie für Ihre Kollegen eine echte Landplage.«
    »Ich versuche es zu vermeiden.«
    »Aszendent?«
    »Keine Ahnung. Ist das wichtig?«
    »Der Aszendent steht für das Ziel, auf das Sie sich hinentwickeln.«
    »Welches Sternzeichen wäre denn gut?«
    »Waage, Krebs. Irgendwas Ausgleichendes.«
    »Bin ich nicht ausgeglichen?«
    »Das würden Sie gern sein. Oder Sie zwingen sich dazu, von Berufs wegen.«
    »Möglich«, meinte Raupach.
    »Um wie viel Uhr sind Sie geboren? Ich habe Tabellen, damit kann ich Ihren Aszendenten bestimmen.«
    »Ich will gar nicht wissen, wo ich mich hinentwickle. Das nimmt dem Ganzen die Spannung.«
    »Astrologie halten Sie natürlich für einen Aberglauben.«
    »Volksbelustigung?«, schlug er vor.
    »Für sich genommen erklären Sternzeichen gar nichts«, dozierte sie. »Man muss darüber reden, dann wird ein Schuh draus.«
    »Wirklich?«
    »Ein paar Anhaltspunkte bringen einen auf die richtige Spur, Beschreibungen von Charaktereigenschaften. Wenn man sich damit auseinandersetzt, erfährt man mehr über sich selbst.«
    Das Gebräu in dem Pokal war fertig. Die Havemann brachte es nach draußen und öffnete die Tür des Wagens. Kotissek kippte ihr leicht entgegen, gehalten vom Sicherheitsgurt. Sie schrie ihm etwas ins Ohr, er schreckte auf. Bevor er sich wehren konnte, flößte sie ihm die Flüssigkeit ein. Darin schien sie einige Übung zu besitzen.
    Raupach ließ sie machen. Eine alte Frau, mindestens siebzig. Kugelförmig und leicht verbeult, so weit das unter ihren mehrlagigen Gewändern zu erkennen war. Sie trug Gesundheitsschuhe und Verbände unter den Strümpfen, die wie Wickelgamaschen aus dem Ersten Weltkrieg aussahen.
    Kotissek kam zu sich, die beiden sprachen kurz miteinander. Dann half die Havemann ihm aus dem Wagen und brachte ihn herein.
    »Iss was, Tünn, dann kommst du wieder auf die Beine.«
    »Was gibt’s denn?«
    »Cassoulet.«
    »Echt?«
    Neben der Kasse stand ein Tisch mit einer Elektroherdplatte und einem großen gusseisernen Topf. Als die Frau den Deckel hochhob, kam es zu einer Geruchsexplosion. Kräuter, Speck, viel Knoblauch. »Du magst doch Bohnen.«
    Sie klatschte zwei große Schöpfkellen auf einen Teller und bugsierte Kotissek an einen leeren Tisch. Raupach hatte sich schon gefragt, wozu der da war.
    »Meine Gästetafel«, sagte sie und sorgte für eine Sitzgelegenheit, Besteck und Serviette. Kotissek schnappte sich einen Löffel und machte sich über die Mahlzeit her.
    »Jetzt zu uns beiden.« Die Havemann verschanzte sich wieder hinter ihre Kasse, öffnete eine Schublade und zog ein dickes Heft heraus. »Sie

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