Das geheime Kind
Brüder.
Vera Bahling stand daneben und fühlte sich machtlos, ausgeschlossen. Die Geschwister hatten schon immer ein enges Verhältnis gehabt. Thorben durfte Nicolas berühren, ihn direkt ansprechen, sogar laut werden. Sie nicht. Selbst Otto hatte einen Zugang zu ihrem Sohn gefunden und sein Vertrauen gewonnen. Nur die eigene Mutter stand abseits.
Hing es damit zusammen, dass sie erst spät erkannt hatte, unter welcher Krankheit Nicolas litt? Dass sie ihn bis dahin wie ein unbelehrbares Kind behandelt hatte? Streng genommen war es gar keine Krankheit, sondern eine besondere Eigenschaft, eine Disposition, wie die Ärzte erklärt hatten. Sie war bei vielen Ärzten gewesen, bis sie sich damit abgefunden hatte.
Der Schock, dachte Raupach. Manchmal war er überwältigend. Wenn er die Angehörigen unvorbereitet traf, konnte er erheblichen Schaden anrichten. Nicolas hatte seinem Kummer Luft verschafft. Aber was würde mit ihm und Vera Bahling geschehen, wenn die Polizisten verschwunden waren? Als junger Kommissar hatte er sich oft Gedanken über die Trümmerhaufen gemacht, die er mit seinen Hiobsbotschaften hinterließ. Dann war er durch den Dienst abgestumpft. Später, während seiner Zeit im Archiv, stellte sich das Problem nicht mehr. Doch seit seiner Rückkehr an die Spitze der Kölner Kriminalpolizei waren die alten Skrupel plötzlich wieder da.
Ein Blick zu Photini: Ihr ging etwas Ähnliches durch den Kopf. Aber für sie war es neu, Auslöser zu sein für Wutanfälle und Zusammenbrüche, die manchmal dicht beieinander lagen.
Thorben dirigierte alle nach draußen und schloss die Tür. »Die Fensterscheibe werden Sie uns ersetzen«, begann er und führte die Ermittler ins Wohnzimmer. »Was haben Sie sich dabei gedacht, Nico mit Ottos Tod zu schocken? Meine Mutter hat Ihnen doch bestimmt gesagt, wie er tickt, oder?«
»Auf mich wirkte er ganz beherrscht«, sagte Photini. »Er war mit einer Befragung einverstanden.«
Thorben musterte sie. »Ist mir schon klar, wie Sie das angestellt haben. Nico wird gerade zum Mann, der kriegt Gefühle, wenn er einen Weiberrock sieht.«
»Sie wohl auch?«, fragte Photini auf ihre spitze Art.
»Wir wollen niemanden provozieren«, wiegelte Raupach ab. »Es war nicht abzusehen, dass Nicolas so intensiv reagiert. Allerdings musste er es ja irgendwann erfahren. Wir legen Wert darauf, in solchen Momenten dabei zu sein.«
»Es ist immer das Gleiche.« Thorben Bahling wandte sich seiner Mutter zu und redete absichtlich an den Polizisten vorbei. »Die Leute denken, man könnte sich ganz normal mit Nico unterhalten. Aber so läuft das nicht! Er lebt in seiner eigenen Welt, und die gehört ihm ganz allein, warum respektiert das keiner?«
»Wann haben Sie Otto Wintrich zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend. Er hat mit Nico Schach gespielt, und dann ist er mit einer Pulle Schnaps losgezogen. Wie soll Ihnen der Junge da helfen? Otto sagt keinem, wohin er geht.«
»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht?«, fuhr Raupach unbeirrt fort.
Thorben Bahling wurde klar, dass er vernommen wurde. »Ich war mit Corinne im Kino.«
»Ihrer Schwester?«
»Meine Freundin ist sie jedenfalls nicht.« Er lachte auf eine Art, die deutlich machte, was er von derlei beamtenhaften Fragen hielt.
»Wir brauchen die genaue Uhrzeit«, sagte Raupach.
»Der Film hat um kurz vor elf angefangen. Der neue mit Brad Pitt. Spätvorstellung.«
»Und was halten Sie von der ganzen Sache?«
»Da hat Otto wohl verdammtes Pech gehabt. Ist an den Falschen geraten, nehme ich an. Früher oder später hab ich so was kommen sehen.« Thorben wandte sich seiner Mutter zu. »Weiß es Corinne schon? Und Vater?«
»Ich kümmere mich gleich darum.« Vera Bahling nahm das Telefon von der Ladeschale. »Wenn diese Polizisten endlich fertig sind.«
»Wir stören nicht mehr lange«, sagte Raupach. »Aber die Alternative wäre, Sie einzeln ins Präsidium zu bestellen, Nicolas unter ärztlicher Aufsicht. Die Wohnung müssten wir versiegeln, und die Spurensicherung würde Ihnen tagelang zur Last fallen. Das will doch keiner.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Vera Bahling.
»Gut.« Raupach ging in Ottos Zimmer und nahm den Aktenkoffer an sich. Er zeigte Photini den Raum, sie versuchte sich ein Bild zu machen.
Thorben ließ die beiden nicht aus den Augen. Er schien sich als Herr im Haus zu fühlen, was er vermutlich auch war. Von Ottos Finanzen wisse er nichts, sagte er auf Raupachs Nachfrage. Er habe versucht, einigermaßen mit ihm
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