Das geheime Kind
Mörderin. Darauf hatte diese Unterhaltung wohl von Anfang an abgezielt. Was für ein Heuchler. »Sie sollten jetzt gehen. Und Ihre Beweismittel nehmen Sie besser mit.« Sie stand kurz davor, dem Koffer einen Tritt zu verpassen.
»Leider müssen wir immer nach den Alibis fragen«, entschuldigte sich Raupach.
»Ich scheiß auf Ihr ›leider‹!«
Der Schrei kam so plötzlich, dass beide zusammenzuckten. Langgezogen und laut, voller Schmerz und Protest. Als bäumte sich ein Tier unter Hieben auf.
EIN TIER MIT REISSZÄHNEN. Photini hatte so etwas noch nie gesehen. Nicolas war außer sich. Die Nachricht von Ottos Tod ließ ihn ausflippen.
Er trampelte auf der Playmobil-Burg herum, fegte die Raumschiffmodelle von der Decke, sie prallten gegen die Wände, zerbrachen, zersplitterten. Eines bekam er zu fassen und schleuderte es nach Photini, die im Türrahmen stand und den Jungen beobachtete.
Sie konnte gerade noch ausweichen. Was hatte sie da angerichtet?
Nicolas tobte. Er riss den Mund auf, als wolle er die Polizistin beißen. Dabei gab er Geräusche von sich, die mit nichts zu vergleichen waren, »tierisch« traf es nur annähernd, es war ein Stöhnen aus der Tiefe, voller unverstelltem Hass. Der Junge wirkte schlagartig sehr viel älter. Photini hatte den Eindruck, als träte etwas hervor, das zuvor nur mit ihr gespielt hatte.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?« Vera Bahling drängte Photini beiseite, hinter ihr erschien Raupach. »Was haben Sie meinem Sohn angetan?« Ihre Stimme überschlug sich.
»Ich rufe den Bereitschaftsdienst der Nervenklinik«, sagte Raupach und suchte nach seinem Handy. »Sonst passiert hier noch ein Unglück.«
»Unglück?« Nicolas richtete seinen Blick auf den Kommissar, den er für den Urheber der Katastrophe hielt. »Daran bist du schuld!«
»Er beruhigt sich wieder«, lenkte Photini ein. »Kein Grund, die Typen mit der Zwangsjacke zu holen.«
Vera Bahling versuchte sich ihrem Sohn zu nähern. Er machte eine krallenartige Bewegung und riss ihr mit dem Fingernagel den Handrücken auf. »Hau ab!«
Sie wich zurück. »Hauen Sie doch ab«, sagte sie zu Raupach und Photini. »Was haben Sie hier verloren? Sie machen alles nur noch schlimmer.«
Eine Scheibe zerbrach. Nicolas hatte sie mit dem Ellbogen eingedrückt. Der Schreck darüber brachte ihn ein wenig zur Besinnung. Entsetzt betrachtete er die gezackten Splitter, ein paar hingen an seinem Fleecepulli.
Otto würde eine neue Scheibe einsetzen, der konnte das. Aber Otto war tot. Ausgelöscht. Was konnte er, Nicolas, bloß tun? Er öffnete den Mund – und wusste nichts zu sagen.
»Was ist hier los?« Thorben Bahling stand im Gang und ging schnurstracks auf Nicolas zu. Er trug weiße Rettungsdienstkleidung mit dem Emblem des Roten Kreuzes und seinem Nachnamen auf der Brust.
Photini und Raupach traten ein paar Schritte zurück. Vera Bahling wünschte sie mit ihren Blicken zum Teufel.
»Schluss!« Thorben schrie seinen jüngeren Bruder an und packte ihn an den Schultern. »Hör auf, Nico!«
»Jemand hat Otto umgebracht!«
»Was?«
»Er ist tot, und die Polizei hat es nicht verhindert!«
Nicolas versuchte, Thorben zu treten, doch der wich aus und hielt den Jungen gekonnt auf Abstand. »Das reicht! Niemand ist hier an irgendwas schuld. Ich will nichts mehr hören, kein einziges Wort!«
Nicolas erstarrte, die Stimme lähmte ihn. Das mochte er gar nicht. Aber es sagte ihm auch, dass alles in Ordnung sei. Dass er sich beruhigen konnte. Alles unter Kontrolle.
Sein Bruder war bei ihm, das war das Wichtigste. Jeder braucht einen älteren Bruder, der einem sagt, wo’s langgeht.
Thorben hielt ihn mit beiden Armen fest, während Raupach ihm den Fall so schonend wie möglich darlegte. Nicolas wollte sich ein paarmal losmachen, doch Thorben gelang es, ihn zu bändigen. Er redete auf ihn ein, senkte nach und nach seine Stimme, vermittelte ihm das Gefühl, dass am Tod nichts zu deuteln sei, so sinnlos er ihm auch vorkomme. Dass die Polizisten nur ihre Pflicht täten und Nicolas beistanden, ihm und ihrer Mutter und der ganzen Familie. Dass sie alles daransetzten, den Täter zu finden. Zu finden und zu bestrafen. Das sei ihr Job.
Nach ein paar Minuten beruhigte sich der Junge. Er betrachtete die Fremden, als hätten sie ihn bei etwas Unanständigem ertappt.
Nicolas schämte sich jetzt. Er drehte sich weg und legte sich auf sein Bett.
Thorben deckte ihn zu und strich ihm über den Kopf. Murmelte etwas, das nur sie beide hörten.
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