Das geheime Kind
dass Raupach die schroffe Bemerkung leidtat, und ließ ihn eine Weile schmoren. Jetzt schnauzte er schon Effie an. Was war bloß mit ihm los?
Sie wurde wieder dienstlich. »Machen wir es so: Ich gehe zu Vera Bahlings Ex-Mann, und du stattest der Tochter in Mülheim einen Besuch ab.«
»Corinne.«
»Wir haben jetzt halb sieben, die Chancen stehen gut, dass wir beide antreffen.«
»Gut«, sagte Raupach. »Klaus Bahling arbeitet wahrscheinlich. Am Freitagabend hat er im ›Brabanter Hof‹ sicher jede Menge zu tun.«
»Dann komme ich endlich dazu, was zu essen.« Photini ließ den Wagen wieder an. »Ohne störende Gesellschaft«, setzte sie mit Nachdruck hinzu.
Der Kommissar stieg aus und ging zu seinem eigenen Wagen.
Vor der »Zweiten Hand«, die inzwischen geschlossen war, blieb er stehen und starrte auf das unbeleuchtete Schaufenster. Seine Schultern hingen nach vorn, als habe ihn die Unterhaltung erschöpft.
Ein trauriges Bild, dachte Photini, verbat sich jedoch jegliches Mitleid. Klemens sollte sich mal selbst malen, seinen Rücken vor einer dunklen Scheibe, an einer unbelebten zugigen Nebenstraße, vielleicht half das.
Sie fuhr los.
DER »BRABANTER HOF« hatte schon bessere Tage gesehen, auch modernere. Das Foyer war überwiegend in abgegriffenem Weiß gehalten, die Kunststoffverkleidungen erinnerten an eine Sportklinik. Man erwartete, dass im nächsten Moment Patienten mit Krücken und Gipsbein aus dem Aufzug humpelten und sich an der Rezeption nach ihrem nächsten Massagetermin erkundigten.
Im Hotelrestaurant dominierten dann Beigetöne und Rauchglas. Als Photini über den schweren Teppichboden schritt, hatte sie das Gefühl, gleich in einem Moorbad zu versinken.
Der Oberkellner nahm sie mit gedämpfter Stimme in Empfang und führte sie an einen Einzeltisch.
Nein, sie sei kein Hotelgast.
Das freue ihn ganz besonders, versicherte er und reichte ihr die Speisekarte, gefolgt von der Weinliste, einem in Leder geschlagenen biblischen Wälzer.
Photini ließ sich einen Salat unter fünfzehn Euro empfehlen und nahm ein Mineralwasser. Das war gesünder als die ewigen Tütensuppen. Gewichtsprobleme kannte sie zwar nicht, doch seit der ersten Nacht mit Patrick scannte sie ihren Körper quadratzentimeterweise und misstraute jedem Bissen.
Ohne einen Funken Ironie beglückwünschte der Oberkellner sie zu ihrer Wahl und entschwand, ganz alte Schule. Er hatte etwas Tänzerisches. Schlank, um die sechzig, kurzes graues Haar. Die Welt hatte sich alle Mühe gegeben, ihn zu verschleißen – ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben in der Gastronomie verbracht, bei Spitzenköchen, in Nobelherbergen. Der »Brabanter Hof« war der Abgesang.
Er war nicht allein im Service, gerade brachten zwei Kellnerinnen Teller an einen Tisch. Mehr Personal wurde nicht gebraucht. In dem Restaurant saßen nur eine Handvoll Gäste. Die Tische waren so angeordnet, dass es nicht so stark auffiel.
Der Laden lief schlecht. Das mochte an der Einrichtung oder wer weiß woran liegen. Sicher nicht am Essen, denn Photinis Granatapfelsalat mit Entenleber war ein Gedicht. Sie liebte Innereien und hatte ein diebisches Vergnügen, wenn andere Leute das eklig fanden. Von ihrer griechischen Verwandtschaft kannte sie ganz andere Perversitäten: gegrillte Hammeldärme, Hirn verschiedenster Provenienz und Schlimmeres.
Als sie fertig war, verlangte sie, mit dem Restaurantchef zu sprechen, unter vier Augen. Der Oberkellner sagte, er werde sich sofort darum kümmern. Ob er Photini für eine Gastrokritikerin oder für jemanden vom Gesundheitsamt hielt, blieb offen. Er fragte nicht nach, er wunderte sich nicht, er ging nur zu seinem Pult und telefonierte. Kurz darauf kam er zurück und brachte Photini zum Büro von Klaus Bahling. Jede Faser seines Smokings verströmte Diskretion. Man sollte ihn unter Artenschutz stellen, fand Photini.
»Danke.«
Der Oberkellner verbeugte sich. »Wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin in der Nähe.«
Kein Wort der Erklärung. Ein Blick, der so etwas wie väterliche Besorgnis verriet, dann war er weg.
Photini klopfte und trat ein.
Klaus Bahling blieb hinter seinem überquellenden Schreibtisch sitzen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Polizei. Ich habe ein paar Fragen.«
Seine Glatze stach als Erstes ins Auge. Er sah aus wie ein Preisboxer, das Gesicht voller Kanten und Grate, gedrungene Statur, massig, aber nicht dick. Ein Nadelstreifen-Jackett spannte über den Oberarmen, keine Billigware, auch der Stoff
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