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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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Werkzeugkasten nahm.
    Die Straße war leer. Otto war tot.
    Und die Polizisten hatten nicht die geringste Ahnung, wer ihn umgebracht hatte. Besonders klug waren sie ihm nicht vorgekommen. Vor allem diese Photini. Sie hatte ihn nicht ernst genommen. Verklemmte Schnepfe. Das war Thorbens Kommentar gewesen. Nicolas stimmte zu. Verklemmt, Thorben fand immer die richtigen Worte.
    Er kannte den Fußweg zur Schule und zum Einkaufszentrum. Zwei Routen, zu denen er leicht zurückfand, wenn er von ihnen abwich. Die Neusser Straße lag ein wenig weiter weg, an der konnte er sich ebenfalls orientieren. Er musste sich nur ganz genau merken, an welchem Punkt er die Straße verließ. Er würde sich nicht verirren.
    Trotzdem bekam er Angst. Wenn er allein loszog, geschahen manchmal schlimme Dinge. Warum war das so? Zog er das Unglück an?
    Er schaltete seinen MP3-Player ein und ging los, im Takt der Musik. Schaute auf die Bordsteinkante, hielt immer den gleichen Abstand zur Straße.
    »Fuck you, I won’t do what you tell me!«, drang es aus den Kopfhörern.
    Nicolas nickte heftig dazu.
    Die Lichter der Stadt. Nach und nach wurden sie mehr, auch die Körper auf dem Bürgersteig. Die Leute wichen ihm aus. Er durfte niemandem direkt ins Gesicht sehen, dann kam er ungehindert voran.
    Jemand rempelte ihn an. Nicolas fuhr herum, bereit zuzuschlagen, und wenn das nicht half, das Messer zu ziehen.
    Ein junger Türke rief eine Entschuldigung und ging schnell weiter.
    Der unvermittelte Kontakt reichte aus, dass seine Gedanken sich wieder überschlugen. Sie fingen an zu rotieren, wie ein Spielplatzkarussell, das sich schneller und schneller drehte, wenn man es kräftig genug anstieß.
    Gut, dass die Raumschiffe kaputt waren, mit denen konnte er sowieso nichts mehr anfangen, das waren nur Phantasieprodukte, Modelle, und die Ritterburg würde er gleich mit auf den Müll werfen, dafür war er jetzt wirklich zu alt, alles Kinderkram, genauso wie die Videospiele, die er manchmal in einem Internet-Café auf den Bildschirm lud, heimlich, weil Mama es zu Hause verbot, da spritzte das Computerblut, da explodierten die Schädel, Kinderkram, genauso wie die nackten Frauen, die er sich online anschaute, in allen möglichen Posen, das waren auch Modelle, die dehnten sich und machten Spagat, sie lächelten dabei oder sie schrien oder sie blieben ganz ernst, echt war das nicht, das konnte jeder sehen, die taten nur so, gegen Geld oder weil sie ihrem Freund imponieren wollten, Nicolas durchschaute sie.
    Er fühlte sich plötzlich ganz reif und erwachsen, das kam durch Ottos Tod, etwas in ihm öffnete sich, immer weiter, ein Windstoß blies durch ihn hindurch wie der Hauch eines neuen Lebens, es war ihm, als verstünde er jetzt Dinge, über die er sich nie zuvor einen Kopf gemacht hatte, zum ersten Mal fühlte er sich in der Lage, mit seinen Gedanken Schritt zu halten, denn sonst eilten sie ihm stets voraus, seine Gedanken, bevor er sie einordnen und bewerten und in Gedankengedanken umwandeln konnte, für eine Reaktion war es dann meistens zu spät, deswegen hielten ihn viele Leute für dumm, doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, damit aufzuräumen, mit der Vergangenheit abzuschließen, zu beseitigen, was ihn daran festhielt und nicht loslassen wollte, Tag um Tag.
    Nicolas bog von der Neusser Straße ab und näherte sich allmählich dem Haus. Seinem Haus. War das noch Nippes, oder schon Niehl, Weidenpesch, Mauenheim? Stadtviertelnamen sagten ihm nichts, das frei stehende Gebäude war ein löchriger Kasten im Niemandsland. Keiner wollte ihn kaufen oder renovieren, nur abreißen, wegmachen, einebnen, um Platz zu schaffen für einen Parkplatz oder einen neuen Wohnblock. »Stilmoden« stand in längst erloschenen Leuchtbuchstaben über dem Eingang, in Schrägschrift. Vor langer Zeit hatte das optimistisch wirken sollen.
    Er vergewisserte sich, dass niemand ihn sah, und schlüpfte unter den Absperrungen hindurch. Das Vorhängeschloss an der Eingangstür war mit Ottos Schlüssel leicht zu öffnen. Sein Kollege war oft hier gewesen, hatte in der Ruine auch mal übernachtet, wenn er nicht mehr heim fand oder sich unsichtbar machen wollte.
    Erster Stock, über Glassplitter, Bauschutt, verbogene Metallteile hinweg. Das war immer wieder spannend. Wenn einem hier mit einem Ziegelstein der Schädel eingeschlagen wurde, konnte man nicht auf Hilfe hoffen, keine bewohnten Häuser lagen in der Nähe. Die Stilmoden waren wie ein offenes Grab, einer der blinden Flecken Kölns,

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