Das geheime Kind
Glück. Raupach hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Er war fülliger geworden, ein paar Sorgenfalten auf der Stirn waren hinzugekommen. Anscheinend lief sein Laden so schlecht, dass er sich mit an den Tisch setzen und die Pokerrunde am Laufen halten musste. Ein Funke des Erkennens blitzte in seinen Augen auf, doch er ließ sich nichts anmerken und schielte zu dem kleinen Kasten neben seiner rechten Hand, eine Gegensprechanlage.
Rechts von Raupach saß Joe Kenter – Pech. Jetzt musste sich der Kommissar schnell etwas einfallen lassen.
»Das glaub ich nicht«, sagte Kenter, ein hagerer Typ Mitte dreißig mit heiserer, sich leicht überschlagender Stimme. Seine Dreadlocks hatten dringend eine Pflegespülung nötig.
»Hallo, Joe.« Raupach nickte ihm zu. »Wie geht’s denn so?«
»Das reimt sich!«, freute sich einer der Zocker, der gerade mit dem Mischen der Karten dran war. »Joe, wie geht’s denn so?«, wiederholte er und lachte.
»Hast du eine Schwester?«, fragte Kenter den Spaßvogel.
»Sogar zwei. Warum?«
»Dann habt ihr also ein Drei-Mäderl-Haus, du und deine Schwestern. Was verlangt ihr denn von den Leuten, damit ihr ein bisschen nett zu ihnen seid?«
Der Zocker begriff, was Kenter meinte. »Reg dich nicht auf, Joe, das war nur ein Witz.«
»Ein Witz?«
»Ein dummer Spruch, ist doch nichts dabei.« Der Mann sah sich suchend um, ob ihm jemand beipflichtete, doch die anderen schwiegen und warteten, was passierte. »Okay, tut mir leid«, lenkte er weiter ein. »War’s das? Können wir jetzt spielen?« Er beeilte sich, die Karten auszuteilen.
Raupach beschloss, die Sache direkt anzugehen. »Du bist ganz schön empfindlich, Joe. Ich dachte, im Gefängnis lernt man Geduld.«
Verdutzte Blicke. Kenters Anspannung wuchs, wurde greifbar.
»Hat dich dein Bewährungshelfer zu hart angefasst?«, legte Raupach nach. »Bist du deswegen sauer? Du weißt doch: Immer die Kontrolle behalten, sonst fährst du wieder ein.«
»Sie haben Nerven.« Kenter klang gefährlich. »Die Beweisaufnahme bei diesem Scheißtankstellenraub hat mir den Knast überhaupt erst eingebracht. Ihre kleine Assistentin war das, die hätte mich auch laufenlassen können, mit dem Ding hatte ich nicht das Geringste zu tun.«
»Wenn Photini etwas macht, dann gründlich.«
»Anscheinend wollte sie’s besonders gut machen und sich bei Ihnen einschleimen.«
»Ist schon eine Weile her«, meinte Raupach. »Wie viel hast du gekriegt?«
Kenter dachte nicht daran zu antworten. »Und jetzt spazieren Sie hier einfach rein und provozieren mich.«
»Ich habe bloß hallo gesagt, soziale Wiedereingliederung und so.«
»Bist du bei den Bullen?«, fragte der Zocker, der sich bislang rausgehalten hatte.
Raupach nahm sich eine von Joes Zigaretten. Als Gelegenheitsraucher gönnte er sich manchmal ein paar Züge, zur Beruhigung. »Wenn ich kein Polizist wäre, würde es diesen Laden hier gar nicht geben. Also sehe ich hier hin und wieder nach dem Rechten und riskiere ein Spielchen.«
Dastmalchian hob entschuldigend die Arme.
»Ich steige aus«, sagte der Mann mit den Schwestern und raffte seine Chips zusammen.
Raupach grinste. »Konnte ja nicht wissen, dass ich bei einem anonymen Gefangenenchor lande.«
Kenter warf sein Whiskyglas, einen schweren Tumbler, ansatzlos, mit jeder Menge Wut im Bauch. Er verfehlte die Schläfe des Kommissars nur knapp. Wollte aufspringen.
Raupach schnellte hoch, seine Hand grub sich in die Dreadlocks. Er hämmerte Kenters Schädel auf die Tischplatte.
Einmal. Zweimal.
Der Kommissar ließ los. »Wir feiern hier nur ein Wiedersehen«, sagte er zur Erklärung.
Kenter taumelte zurück und hielt sich die Nase. Der Security-Mann fing ihn auf und beförderte ihn unter heftigem Widerstand nach draußen. Die beiden Zocker suchten schleunigst das Weite.
Dastmalchian blieb ungerührt sitzen und gab per Sprechanlage Anweisungen. Er war alles andere als amüsiert.
DER OBERKELLNER BRACHTE PHOTINI zu ihrem Wagen auf dem Parkplatz des »Brabanter Hof«. Sein schwarzer Rücken, ohne die Spur einer Fussel oder einer Hautschuppe, ließ Photini an ihren Vater denken. Der war auch hyperkorrekt mit seiner Kleidung, hielt sich gerade, obwohl ihn die Jahre in der Stahlgießerei, ohne Atemmaske, mit minimalen Schutzvorkehrungen, zu einem Wrack gemacht hatten.
Eleftherios Diros sah es nach wie vor nicht gern, dass Photini bei der Polizei war. Aus politischen Gründen, wie er vorgab. Seine Tochter eine Dienerin der Staatsmacht –
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